Hamburg, Herbst

Ich verstehe nicht, wie der Hauptbahnhof überhaupt funktioniert. Ein Gewirr aus Brücken, Treppen und Tunneln. Ausgänge zu allen Seiten. An jedem Bahnsteig warten drei Züge. Der Bahnhof ist zu klein für diese Stadt und die Stadt ist zu groß für diesen Bahnhof. Eine Ameisenstraße anlegen und niemals von ihr abweichen.

Mein Bruder hat einen Kebabladen in Hoheluft ausgesucht. Sie kontrollieren sorgfältig unsere Impfausweise. Das Essen ist gut, aber nach einer Weile bemerken wir einen seltsamen Geruch. Ich denke zuerst an den Autoverkehr der vierspurigen Straße vor unserer Tür, aber mein Bruder riecht das Gas. Er geht zur Theke, jetzt merkt es der Inhaber auch, aber die Leitungen sind alle okay, sagt er und zeigt mit den Händen unbestimmt in Richtung Wand. In meinem Kopf läuft ein Film ab, die Druckwelle der Explosion schleudert uns durch die großen Glasfenster auf die Straße, das wäre der richtige Abschluss für diesen traurigen Tag, aber erst muss ich noch aufessen.

Das Krankenhaus ist ein ganzes Stadtviertel. Als ich auf die neue Station komme, begrüßt mich die Schwester schon an der Tür. Ich war gerade bei Ihrem Vater im Zimmer. Ich wusste ja, dass er heute Besuch von seinem Sohn bekommt und als ich Sie vom Fenster aus auf der Straße gesehen habe, wusste ich gleich, dass Sie es sind. Sie sehen aus wie Ihr Vater.

Mit meiner Mutter machen wir einen Ausflug zur Schiffsbegrüßungsanlage in Wedel. Es ist kalt und windig, aber immerhin kommt nach einer Weile ein großes Containerschiff herein. Über die Lautsprecheranlage werden ein Begrüßungstext und die indonesische Hymne abgespielt. Das Schiff hupt. So hat alles seine Ordnung.

Überall treffe ich freundliche Menschen. Überall treffe ich freundliche, reiche Menschen. Die U-Bahnhöfe haben gemütliche Namen. Schlump, Eppendorfer Baum, Lattenkamp. Das Verkehrssystem ist chaotisch und nicht zu verstehen, aber alle bleiben ruhig dabei.

Am schönsten ist es, mit dem Fahrrad durch die Stadt zu fahren. Alster, Norderelbe, Isebekkanal. Wir fahren durch den Alten Elbtunnel und trinken am Kiosk auf der Südseite ein Astra, wie alle Touristen. Wir finden die John-Lennon-Tür. Wir umrunden den ganzen Flughafen. Randlagen, Uferwege, Endhaltestellen.


Mein Bruder holt mich aus dem Plattenladen ab. Vorn bei den Neueingängen stehen das Rote und das Blaue Album. Er hat beide noch nicht und ich schenke sie ihm kurzerhand. Die kulturelle Mindestausstattung eines jeden Haushalts. Später stellt sich heraus, dass mein Bruder der erste Mensch auf der Welt ist, dem die frühen Sachen besser gefallen als die späten, aber Kunststück, wir sind in Hamburg, das wirkt noch lange nach.


7 Kommentare

  • AMIGA hat im Osten das Blaue Album als Einfachalbum herausgebracht, es stand in der Stadtbibliothek in Barth. Kann gut sein, dass das mein Erstkontakt zu den Beatles war. Der Musikmanager Allen Klein war sicher eine problematische Figur der Bandgeschichte, aber die beiden Compilations „1962-66“ und „1967-70“ zählen auf die positive Seite seines Wirkens.

    Die Hamburger Tür ist auf dem Cover von Lennons Album „Rock ’n‘ Roll“ von 1975 und wurde leider gerade restauriert (hoffentlich). Es wehte aber kein Geist vorbei, als ich dort stand.

  • Interessant! Danke! Vielleicht zum Hintergrund: Die Beatles und die Stones waren für die Generation Gold eher nicht so spannend. Ich hatte auch keine Bedenken, eine Original-LP von A hard day’s night bei der Entrümpelung wegzugeben. Das war tatsächlich eine Art Paralleluniversum, vor meiner Zeit, zu dem ich keinen richtigen Zugang bekomme. Ich merkte es, als Yoko Ono 2013 bei der Eröffnung ihrer Ausstellung in der Frankfurter Schirn auf einmal vor mir stand.

  • Yoko Ono habe ich erst im letzten Jahr als Musikerin wahrgenommen. Gerade ihre letzten Alben sind großartig und sehr weit weg von den Beatles. Mit über 80 Jahren in der japanischen Szene Avantgardemusik zu machen, muss man auch erstmal schaffen.

  • Absolut richtig. Aber: Wir sprechen über die Yoko Ono von heute! Eine 80-jährige Freundin von uns konnte sich noch an John und Yoko von damals erinnern und sagte sofort: Sie hatte die Beatles auseinandergebracht. Der Gedanke wäre mir nie gekommen, aber ihr war das immer noch gegenwärtig. Muss schlimm gewesen sein damals.

    BTW: Es heißt natürlich „Generation Golf“ …

  • Der aktuelle Forschungsstand sagt allerdings, dass Yoko allenfalls mittelbar mit der Auflösung der Band zu tun hatte (indem sie zur Emanzipation Lennons beitrug), die Beatles aber ohnehin an ein Ende gekommen waren. Tatsächlich hatten alle vier Bandmitglieder in den ersten Jahren ab 1970 ihre beste Zeit. Es gab und gibt unfassbar viele Vorurteile gegen Yoko Ono, glaube ich.

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