Schlagwort: Musik

Vor dem Konzert

Mit der Aussicht darauf, gleich drei Stunden eingezwängt im Innenraum der ausverkauften Mercedes-Benz-Arena zu stehen, waren wir nicht die einzigen Besucher, die auf die Idee gekommen waren, nochmal das Wasser abzuschlagen. Man kennt das aus der Halbzeitpause im Fußballstadion: Vor der Herrentoilette bilden sich breite Schlangen und man ist beinahe geneigt, schon einmal die Hose zu öffnen, sobald das Porzellan in Sichtweite gekommen ist, um am Zielort nicht unnötig Zeit zu verschwenden. Alle stehen stumm und mustern unauffällig die Rücken der Leute an den Urinalen, um abzuschätzen, wann und wo sich die nächste Möglichkeit bieten wird, den Raum bestimmungsgemäß zu nutzen und sodann alsbald wieder zu verlassen.

So auch hier, wobei ich mich irritiert fragte, warum die Person vor mir nicht die gerade freigewordene Lücke besetzte, sondern einfach stehenblieb. Vielleicht hat er ein besonderes Bedürfnis nach Privatsphäre und wartet darauf, dass weiter hinten eine der wenigen und daher besonders begehrten Kabinen frei wird, dachte ich – nur um dann verdutzt festzustellen, dass es sich nicht um einen Mann, sondern um eine Frau handelte, die offenkundig und naturgemäß kein Interesse an den Pinkelbecken hatte. Überhaupt bemerkte ich jetzt, dass mehrere Frauen in der Schlange standen. Es herrschte eine entspannte und von Vorfreude geprägte Stimmung, nicht nur in den sanitären Bereichen der Halle. Kurz war ich geneigt, einmal neugierig gegenüber in die Damentoilette zu schauen, aber jetzt hatte ich schon so lange gewartet und ließ mir nichts weiter anmerken.

In Berlin sind sie mit diesen Gendersachen wahrscheinlich schon weiter als bei uns.

Im Oktober

Das Einkaufszentrum ist inzwischen fast leer. Vor dem Seiteneingang sitzt eine Katze, als ich reingehe, schlüpft sie vor meinen Füßen durch die Glastür und läuft schnurstracks die Passage entlang. Im Laden sagen sie, die Katze gehöre zum Friseur, die hätten sie mitgebracht. Sie komme jeden Tag herein und sehe nach, obwohl der Friseur doch schon am Mittwoch zugemacht habe.

Auf dem Weg ins Haus, die Koalitionsverhandlungen laufen noch, der Stab im Vorzimmer ist unruhig. Der Fahrer unseres Dienstwagens besetzt die Überholspur der Autobahn, von hinten kann ich die Geschwindigkeit auf dem Head-up-Display der Frontscheibe ablesen. Das neue Sakko liegt neben mir, der schwarze Halbmantel im Kofferraum. Ich prüfe den Sitz der Krawatte im Rückspiegel. Nieselregen, die Scheibenwischer arbeiten zuverlässig. Hochnebel verschluckt die Rotoren des Windparks. Es sind keine Tiere zu sehen.

The Cure fingen mit Shake Dog Shake an und da war gleich klar, dass es gut werden würde.

Im Landesmuseum noch eine Fotoausstellung über das alte Greifswald, gleich am Anfang das Vorher-nachher-Spiel, also erst ein Schwarz-Weiß-Bild aus der Zeit vor dem Flächenabriss der Altstadt und daneben eine aktuelle Farbfotografie aus derselben Perspektive. Das läuft immer darauf hinaus, dass auf dem ersten Bild Menschen auf den Straßen ihrer langsam verfallenden Stadt zu sehen sind und auf dem zweiten parkende Autos. Es entsteht eine Mischung aus Wehmut und schlechter Laune.

In Vorpommern ist alles voller Himmel.

Mich an eine Fernsehkochshow in unserer Urlaubsbude erinnert und ein Gericht gekocht, das Zombie Brain heißt und auch so aussieht.

Die Pferdeweide am Ortsrand von Miltzow, das Reh auf dem Feld vor Reinberg, die Kraniche auf dem umgebrochenen Acker bei Stahlbrode, die wartende Katze am Feldrand hinter Poppelvitz, der Bussard über der Schoritzer Wiek, der Graureiher, der am Ryckufer landete, der Hirsch im Wald nach Steffenshagen.

Von München geträumt, das sich als dystopischer Ort erwies. Es war seltsam warm, auf den Plätzen zwischen all den gotischen Bauten lag zentimeterhoch eine Mischung aus Schnee und Asche, eine kleine Wasserflasche am Kiosk kostete siebzehn Euro. Schlafplätze waren einfach nicht zu bezahlen und der Mann im Kiosk gab mir den Rat, mir für die Nacht rechtzeitig einen Platz in einem U-Bahnhof zu suchen, das würden alle Touristen so machen. Mir fiel dann ein, dass A. jetzt in München wohnt. Sie war da und nahm für eine Übernachtung auf einer Biedermeiercouch mit durchgesessenen Sprungfedern hundert Euro, einen Freundschaftspreis. Vielleicht war es auch Prag, ich weiß es nicht mehr genau.

Auf dem Rückweg kam die Oktobersonne heraus, sie wärmte noch ein bisschen.

Etwas zu Schallplatten

Glücklicherweise habe ich diese Probleme nicht. Ich höre viel Musik, aber ich bin kein Sammler. Es muss nicht vollständig sein. Irgendwann habe ich aufgehört, mir die neuen Sachen von The Cure zu kaufen, David Bowie ist extrem lückenhaft, Leonard Cohen auch, es kann gut sein, dass ich die frühen Kent-Platten nicht habe und mit Bob Dylan habe ich sicherheitshalber gar nicht erst angefangen. Ganz zu schweigen von Jazz. Ich habe ein paar Dinge, aber die Diskographie von John Coltrane und Miles Davis ist ohnehin nicht mehr zu schaffen. Das kann man in einem Leben noch nicht mal alles anhören.

Ich kaufe noch immer CDs. Kein iPod, kein Streaming, keine Platten, keine Kassetten. Schallplatten waren DDR, als der Westen kam, ging es gleich mit den CDs los. Die guten Platten hat sich mein großer Bruder mitgenommen und der Rest steht in einer Kiste auf dem Dachboden.

Eigentlich könnte das alles so bleiben, wie es ist, aber inzwischen habe ich ein bisschen Sorge, dass diese Technik eines Tages einfach abgeschaltet wird, so wie sie es jetzt mit der Mittelwelle machen. Dass der CD-Player mit diesem Laserstrahl mal kaputtgeht und es im Laden keinen neuen mehr zu kaufen gibt oder dass die Musik verschwindet, die sie irgendwie auf diese Scheiben raufgedampft haben.

Aber Schallplatten (oder Vinyl, wie man jetzt sagt) sind nerdiges Zeug. Man braucht eine Anlage, einen Plattenspieler, einen Verstärker, Boxen, diese antistatischen Tücher, man muss sich um den Saphir kümmern, den Riemen, alles eine Wissenschaft. Die Platte vorsichtig aus der Hülle holen, auf diesen Stöpsel in der Mitte legen, den Motor in Gang setzen, die Nadel langsam auf die Platte absenken, den Deckel schließen und nach 20 Minuten die Platte umdrehen, wenn bis dahin alles gutgegangen ist. Platten verkratzen, sind groß und schwer zu transportieren. Das Cover knickt an den Ecken leicht ein. Jeder, der mal diese Supertramp-LP von Supraphon in einem Rucksack von Prag nach Hause bringen musste, weiß das.

Andererseits, Coolness:

Die Eingangsszene der zweiten Staffel von »Lost«, in der das erste Mal Desmond Hume und die alte Schwan-Station der Dharma-Initiative auftauchen.

Der letzte Teil der ersten Staffel von »Bosch«, als Hieronymus Bosch seiner Tochter Madeline »Patricia« von Art Pepper auflegt:

– How’d you like the tune?
– It was good. I don’t really know anything about jazz, but I liked it.
– I’ll get you some CDs.
– I don’t have a CD player. I download all my music.
– Right. I’ll get you some discs and a CD player. Better yet, I’ll get you some vinyl and a turntable. Best way to listen.

Ed Smith zieht eine schöne Parallele von Vinyl vs. Streaming zu Test Cricket vs. Twenty20. Aber Test Cricket ist wirklich ein anderes Spiel als das süße Gift Twenty20 (nicht nur ein Sport, sondern ein Weg, den ganzen Tag zu verbringen, wie Smith richtig schreibt, und eigentlich nicht nur einen Tag, sondern eine Woche). Wird aus der Musik auf der B-Seite einer Single etwas anderes, wenn sie bei Spotify gestreamt wird?

Hier wäre jedenfalls ein Plattenladen.