Kategorie: Weblog

In der Anklamer Straße

Die Polizisten hatten sich in einer Einfahrt in der Anklamer Straße versteckt und gewartet, bis ich auf ihrer Höhe war, dann winkten sie mich raus. Ihren Personalausweis bitte. Sie fahren auf der verkehrten Straßenseite. Hier gilt das Rechtsfahrgebot. Dazu muss man wissen, dass die Anklamer Straße eine vielbefahrene Hauptstraße ist. Einen Radweg gibt es nur auf der einen Seite. Wer in Richtung Stadtzentrum unterwegs ist, muss entweder – verkehrt herum auf der linken Seite – diesen Radweg nehmen oder auf der rechten Seite direkt auf der Straße fahren und hoffen, dass ihn kein Auto erwischt. Die Stadt hat dort einen sog. Radschutzstreifen auf die Straße gemalt, der vielleicht einen halben Meter breit ist und die Sache nicht viel besser macht. 90 Prozent der Leute nehmen den Radweg und das ist dann leicht verdientes Geld für den grünen Oberbürgermeister meiner kleinen fahrradfreundlichen Stadt.

Ich holte meinen Personalausweis raus und überlegte, ob ich mit der Polizistin eine Diskussion über Prioritäten führen sollte. Ich könnte ihr zum Beispiel vorschlagen, ein einziges Mal die Geschwindigkeit der Autos zu messen, die durch unser Wohngebiet rasen, oder sich einmal an eine Straßenecke zu stellen und zu zählen, wie viele Leute beim Autofahren telefonieren, ich dachte an die zugeparkte Stadt, wie so ein Spießer, dachte ich, und dann dachte ich, das hier ist eine gute Gelassenheitsübung und kämpfte meine Wut ein bisschen nieder.

Ich war sowieso schon geladen. Ich hatte zehn Minuten lang im Bioladen gewartet, bis der hustende und maskenlose Verkäufer der Kundin vor mir zwei Pastinaken und eine Paprika verkauft hatte und dann noch ein Brot bitte. Neben der Kasse stand das Buch Corona natürlich behandeln: Covid-19 ganzheitlich verstehen, vorbeugen, heilen. Es kostete 20 Euro und die pickligen Viren aus dem Elektronenmikroskop, die seit einem Jahr überall zu sehen sind, waren auf dem Cover grün eingefärbt, so dass sie wie Spinatbällchen aussahen oder wie kleine Kohlköpfe, aber dafür konnte die Polizistin ja nichts. Sie konnte auch nichts dafür, dass sie hier stehen musste und dass ich mich nicht an den Verkehrsregeln gehalten hatte. Die Polizistin blieb die ganze Zeit freundlich. Wahrscheinlich hatte sie gerade eine Gelassenheitsübung gemacht und eventuell lächelte sie sogar unter ihrer FFP2-Maske, es war nicht zu erkennen.

Ich nahm meinen Personalausweis und fuhr nach Hause. Zur Beruhigung und zum Ausgleich der Karmabilanz holte ich einen Eimer Farbe aus dem Keller, überstrich die neuen Graffiti an der Hauswand und dachte dabei an Tom Sawyer.

Pasewalk

Man braucht einen guten Anlass, um nach Pasewalk zu fahren, aber den hatten wir.

Pasewalk ist eine Stadt aus dem Mittelalter. Die Häuser wurden in den allerletzten Kriegstagen abgeräumt und später durch Neubaublocks ersetzt. Drumherum steht noch die alte Stadtbefestigung.

Trotzdem: der Stadtgrundriss, der Doppelbahnhof, das Ueckertal: Schönheit gibt es überall.

Der Zug fährt nur alle zwei Stunden und wir haben die Fahrräder mit. Im Buchladen besorgen wir uns eine Fahrradkarte und fahren ein Stück voraus. Straßendörfer, die Häuser rot und ein bisschen zurückgesetzt, fast wie in Brandenburg. Das ist noch unser Landkreis, aber es ist nicht mehr Norddeutschland. Unterwegs kaufen wir in einer Holzbude Brot, es schmeckt großartig. Belling, Sandförde, Jatznick und dann noch ein Stückchen durch den Wald bis zur großen Forstsamendarre. Auf dem Bahnsteig gegenüber fährt der Zug nach Ueckermünde ab, hier sind wir schon einmal umgestiegen.

Heimatkunde, Wandertag.

Die kurze Spanne

Über The Great Span gelesen: direkte Verbindungen durch einzelne Menschen über große Zeitspannen hinweg. Menschen wie der 96-jährige Samuel Seymour, der 1956 in einer Fernsehshow erzählte, wie er als kleines Kind Zeuge des Attentats auf Abraham Lincoln wurde. Oder der Lehrer, der Scott Hühnercrisp erzählte, dass er als kleiner Junge einen alten Mann getroffen hatte, der wiederum als Kind bei Johannes Brahms zum Abendessen eingeladen gewesen war.

Mein Moment fand statt, als ich mit H. und H. das Kraftwerk in Peenemünde besuchte und am Ende der Ausstellung auf einer Tafel las, dass das Kraftwerk noch bis Ende März 1990 Strom produziert hatte. Die Fabrik, die eigentlich die Energie für den Bau der Wunderwaffe hatte liefern sollen, sorgte also am Ende für den Betrieb des kleinen Schwarzweißfernsehers, mit dessen Hilfe ich mich in den Nächten in der Telefonzentrale der 1. Flottille wachhielt. Schon damals war das Kraftwerk eine Mischung aus Bauruine und Museum, es war ein Wunder, dass das Ding überhaupt so lange in Gang gehalten werden konnte. Ich wusste nichts über Peenemünde, merkte ich, ich fuhr monatelang am Gerippe der Sauerstofffabrik vorbei, wenn es zurück in die Kaserne ging, jenseits der Mauer sah ich auf das alte Kraftwerk, im Wald standen die Flieger, alles war voller Geschichte, aber ich wusste nichts davon und es spielte keine Rolle.

Aber das ist nicht The Great Span. Es ist das Gegenteil. Ich bin jetzt weiter weg von 1990, als ich bei meiner Geburt vom Zweiten Weltkrieg entfernt war. Meine Mutter wurde im Krieg geboren, mein Vater kurz danach. Ich dachte immer, das sei alles sehr lange her, ein Fall für die Geschichtsbücher, für alte Filme, abgeschlossen, vorbei, dabei war seitdem kaum Zeit vergangen.