Im Sommer bekam ich eine Anfrage, ob ich am letzten Augustwochenende beim »1. World Xiangqi Open« in Berlin mitspielen wolle. Nun muss man wissen, dass klangvolle Bezeichnungen beim chinesischen Schach nicht ungewöhnlich sind, ich dachte mir also nichts weiter und sagte zu. Und so war ich einigermaßen überrascht, als ich beim Eintreffen im Chinesischen Kulturzentrum erfuhr, dass es sich um eine Art Mannschaftsweltmeisterschaft handeln sollte und unser Team in der ersten Runde gleich gegen die chinesische Nationalmannschaft spielen würde. So ähnlich muss sich Gibraltar bei den Qualifikationsspielen zur Fußballeuropameisterschaft fühlen.
Die Unterschiede zwischen China und dem Rest der Welt sind im Xiangqi riesig. Allein Vietnam kann einigermaßen mit den Chinesen mithalten, was zu lustigen Konsequenzen führt: Bei großen internationalen Turnieren werden in der Regel Extra-Preise für die besten »non-chinese-non-vietnamese« Spieler (die »Langnasen«) vergeben, die Nationalmannschaften werden weltweit vor allem von Exilchinesen gebildet und das stärkste Turnier ist nicht die auch Langnasen zugängliche Weltmeisterschaft, sondern die chinesische Einzelmeisterschaft.
Wie zum Beweis wurden am ersten Abend acht Langnasen für ein Blindsimultan gegen den chinesischen Großmeister Liu Dahua gesucht. Ich meldete mich natürlich. Liu Dahua ist eine Legende im Xiangqi. Er tritt im chinesischen Fernsehen auf, gewann mehrfach die chinesische Meisterschaft und hält den Weltrekord im Blindsimultan. Liu Dahua spielte acht Partien gleichzeitig, und das ohne Ansicht des Brettes. Er saß mit dem Rücken zu uns, ließ sich von einem Helfer reihum unsere Züge ansagen und sagte dann jeweils seine Erwiderung an, alles aus dem Kopf und natürlich auf Chinesisch. Das überwiegend chinesische Publikum schaute erst beeindruckt und andächtig zu, kam dann nach und nach zu unseren Tischen und fing an, über die Partien zu diskutieren, manche fuchtelten zur besseren Erläuterung sogar mit den Händen und Figuren auf unseren Brettern herum. Es entstand ein tosender Lärm, der Liu Dahua aber nicht weiter störte, er rief seine Züge einfach noch lauter in den Raum hinein. Die chinesische Schachkultur ist von unserer verschieden, man spielt nicht in abgedunkelten Hinterzimmern, sondern umringt von Publikum auf der Straße und Turniere finden auch schon mal in einer Shopping Mall statt. Am Ende verlor ich meine Partie, nur eine Langnase schaffte wenigstens ein Unentschieden.
Als ich am nächsten Tag nochmal gegen Liu Dahua spielen durfte, rechnete ich mir deshalb erst recht keine Chancen aus. Diesmal musste er nicht acht Partien gleichzeitig berechnen, sondern nur eine und die auch nicht im Kopf, sondern mit dem Gesicht zum Brett. Vielleicht unterschätzte er mich, vielleicht spielte ich aber auch besser ohne Lärm und mit genug Zeit zum Nachdenken, jedenfalls fing er in der Mitte der Partie an, etwas länger an seinen Zügen zu überlegen und ein paar Tricks zu versuchen. Ich hielt den Kampf lange im Gleichgewicht, aber auf den letzten Metern überwältigte mich die Aufregung (Hey, ich spiele gegen Liu Dahua!) und nach einem Anfängerfehler gab ich auf. Danach redete er auf mich ein und zum Glück fand sich jemand, der mir übersetzte, dass der große Liu Dahua mein Spiel gelobt hatte.