Schlagwort: Berlin

#101

Entropie

Unsere Osterfreunde hatten mir ein Buch ins Krankenhaus geschickt zur Erinnerung an die gemeinsame Zeit auf der Pfaueninsel und am Tag vor dem Eingriff las ich es und zum Ende hin holte ich mir einen Stift aus der Tasche und fing an, ein paar Anstreichungen zu machen.

Das Vergehen der Zeit, dachte sie, war ja vor allem ein Vergehen von Zukunft und ein Sieg der Vergangenheit. Einer Zeit also, zu der sie gehörte und die nicht verging. Wie verging einem Tier im Käfig seine Zeit? Oder hatten die Tiere, die ja nicht wussten, dass sie sterben mussten, gar keine? Wie seltsam, dachte sie, dass eine Welt vergehen und zugleich dableiben konnte. Dass immer mehr verschwand als entstand und doch alles zunahm. Jeder Liebende ist ein Überlebender. Doch auch die Toten sind weiter unter uns, als wäre nichts geschehen. Jeder Garten ein Friedhof.

– Thomas Hettche: Pfaueninsel

Was schön war, Ostern

Essen: Pelmeni, Lammbraten, das russische Konfekt aus dem Laden im Bahnhof Charlottenburg, der rund um die Uhr geöffnet hat.

Mit J. und E. auf dem Fahrrad die Kantstraße entlangfahren und im Quasimodo landen. Mit zwei Musikern an einem Tisch sitzen, Bier trinken und ihnen dabei zuhören, wie sie sich über Tonarten unterhalten.

Einen thailändischen Lebensmittelladen aufsuchen:
– Wissen Sie, wo ich in Berlin ein Makruk-Spiel bekommen kann?
– Makruk?
– Das ist thailändisches Schach.
– Fragen Sie die Frau an der Kasse.
Ich frage die Frau an der Kasse:
– Wissen Sie, wo ich in Berlin ein Makruk-Spiel bekommen kann? Das ist thailändisches Schach.
– Ja. Nirgends.
Inzwischen sehen mich alle Frauen aus dem Laden forschend an. Abgang.

Durch die Joachimstraße gehen. Den Rosenthaler Platz umrunden. Mit der U8 fahren.

Durch den Babelsberger Park über Klein-Glienecke bis in den Tarifbereich B laufen. Im Doppelstockbus oben und ganz vorn sitzen und durch den Grunewald fahren.

Mit Freunden gemeinsam Zeit verbringen. Das sollte ich öfter machen.

Vor dem Konzert

Mit der Aussicht darauf, gleich drei Stunden eingezwängt im Innenraum der ausverkauften Mercedes-Benz-Arena zu stehen, waren wir nicht die einzigen Besucher, die auf die Idee gekommen waren, nochmal das Wasser abzuschlagen. Man kennt das aus der Halbzeitpause im Fußballstadion: Vor der Herrentoilette bilden sich breite Schlangen und man ist beinahe geneigt, schon einmal die Hose zu öffnen, sobald das Porzellan in Sichtweite gekommen ist, um am Zielort nicht unnötig Zeit zu verschwenden. Alle stehen stumm und mustern unauffällig die Rücken der Leute an den Urinalen, um abzuschätzen, wann und wo sich die nächste Möglichkeit bieten wird, den Raum bestimmungsgemäß zu nutzen und sodann alsbald wieder zu verlassen.

So auch hier, wobei ich mich irritiert fragte, warum die Person vor mir nicht die gerade freigewordene Lücke besetzte, sondern einfach stehenblieb. Vielleicht hat er ein besonderes Bedürfnis nach Privatsphäre und wartet darauf, dass weiter hinten eine der wenigen und daher besonders begehrten Kabinen frei wird, dachte ich – nur um dann verdutzt festzustellen, dass es sich nicht um einen Mann, sondern um eine Frau handelte, die offenkundig und naturgemäß kein Interesse an den Pinkelbecken hatte. Überhaupt bemerkte ich jetzt, dass mehrere Frauen in der Schlange standen. Es herrschte eine entspannte und von Vorfreude geprägte Stimmung, nicht nur in den sanitären Bereichen der Halle. Kurz war ich geneigt, einmal neugierig gegenüber in die Damentoilette zu schauen, aber jetzt hatte ich schon so lange gewartet und ließ mir nichts weiter anmerken.

In Berlin sind sie mit diesen Gendersachen wahrscheinlich schon weiter als bei uns.