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Koinzidenzen

Für einen halben Tag verlassen wir die kleine Stadt. In Zinnowitz schieben wir die Fahrräder aus dem Zug und fahren in Richtung Strand. Auf der Hauptstraße treffen wir meine Eltern. Im Augenwinkel sehe ich auf dem Gehweg zwei vertraute Umrisse und eine Mütze, die mir vage bekannt vorkommt. Das reicht meinem Unterbewusstsein – ich drehe mich um und sehe nach. Sie sind es tatsächlich. Ich laufe zurück und spreche sie an. Hallo, sagt mein Vater und es dauert ein paar Sekunden, ehe in seinem Gesicht ein großes Fragezeichen auftaucht: Was machst du hier? Es stellt sich heraus, dass meine Eltern in dieser Woche auf Usedom unterwegs sind und plötzlich zum Zahnarzt mussten. Sie kamen in dem Moment aus der Praxis heraus, in dem wir daran vorbei rollten.

Geschenkte Zeit. Wir fahren zusammen den Strandweg bis nach Trassenheide. Die Saison beginnt gerade, die gute Fischbude hat erst vor ein paar Tagen wieder aufgemacht. Wir sitzen in der Sonne und erzählen, dann müssen die Eltern wieder zurück.

Wir gehen gehen über den kleinen Hügel hinunter zur Klinik. Es gibt gerade Mittag und beinahe will ich mir ein Tablett nehmen und mich für das Bewusst-Genießen-Menü anstellen, aber dann desinfiziere ich mir nur die Hände, laufe durch das Foyer und staune über all die unbekannten Menschen, die jetzt hier sind. Safe Spaces nennt mein Arzt das, was ich fühle.

Der Ostwind schiebt uns weiter bis nach Peenemünde. Ich habe nachgesehen, es ist alles noch da: der Wald, das Meer, der Wind. Wie tröstlich.

Das Restaurant in Zinnowitz ist fast leer, aber die Terrasse davor voller Urlauber. Osterferien. Der kleine polnische Kellner kommt kaum hinterher, wir müssen lange warten.

Auf dem Rückweg sieht die Schaffnerin versonnen aus dem Zugfenster, sie erklärt uns, an welchen Stellen man am besten die Tiere beobachten kann. Rehe, Rinder, Hasen. Die beiden Kraniche von der Hinfahrt sind auch noch da. Auf den Feldern liegt schon das Abendlicht.

Geschichten aus Trassenheide

Morgens halb sieben. Ich werde vom Telefon geweckt. Eine Schwester ist dran.

– Guten Morgen, Herr K! Wie geht es Ihnen heute?

Ich bin verwundert. Das ist noch nie passiert.

– Ganz gut, nur die Beine tun noch weh.
– Schön. Ich schlage vor, wir warten noch ab und Sie gehen nachher zu Ihrem regulären Arzttermin.

Noch mehr verwundert:

– Ich habe heute eigentlich keinen Arzttermin.
– Aber Sie haben doch bei der Nachtschwester gesagt …
– Ich war auch nicht bei der Nachtschwester.
– Oh … Ja, ich sehe gerade, das habe ich verwechselt. Sie heißen so ähnlich wie der Patient, den ich meinte.

Legt auf. Ich bin wach.

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Die Rehaklinik ist breit aufgestellt, oder wie man heute vielleicht sagen würde: diversifiziert. Das bedeutet, dass es alle möglichen Patienten gibt, mal mehr aus dieser Gruppe, mal weniger aus jener. Wie es gerade kommt. Es sind immer 250 Patienten, es ist immer voll belegt. Die Klinik ist beliebt, gleich hinter der Düne liegt die Ostsee, auf der anderen Seite ist der Küstenwald. 500 Schritte entfernt liegt eine Art Promenade, mit einer Fischbude, einem Kramladen, einer Eisdiele, einer Bar und mit zwei Restaurants. Es ist ein Rentnerparadies, die Urlauber und die Patienten verschwimmen hier zu einer entspannten Masse in wetterfester Kleidung. Die Urlauber haben E-Bikes, die Patienten gehen zu Fuß.

In der Rehaklinik wohnen wir alle unter einem Dach, im buchstäblichen Sinne. Das Klinikgebäude hat in der Mitte einen großen Innenhof, in den von oben das Sonnenlicht hineinfällt. Usedom ist der sonnenreichste Ort in Deutschland. Zu den Zimmern führen Laubengänge, die auf jeder Etage rechts und links vom Lichthof liegen. Die Gänge sind untereinander mit kleinen Brücken verbunden. Zwischen den Etagen gibt es am Anfang und am Ende des Hofes offene Treppen. Es sieht ein bisschen wie in diesen Gefängnisfilmen aus, nur ohne Gitter. Wir dürfen uns frei bewegen, jedenfalls bis 22 Uhr.

Die Patientengruppen leben voneinander getrennt. Es gibt nur wenig Berührungspunkte. An der Spitze der Hierarchie stehen die psychosomatischen Frauen. Die psychosomatischen Frauen bilden eine große Gemeinschaft und machen oft zusammen Ausflüge, auf denen sie die ursprüngliche Landschaft und das herrliche Wetter genießen. Die psychosomatischen Frauen haben Zugang zum Kreativbereich und basteln dort schöne Dinge aus Speckstein. Die psychosomatischen Frauen bringen die Lieblingstasse von zuhause mit in den Speisesaal und tragen bunte Tücher. Die psychosomatischen Frauen hängen sich Lichterketten ins Fenster und wissen, wo im Yoga-Raum die Kissen versteckt sind. Es gibt nur wenige Männer bei den psychosomatischen Frauen, auch sie wirken sensibel und körperbewusst.

Danach kommen die Orthopädie-Patienten. Sie haben eine neue Hüfte oder ein neues Knie und sind sehr leicht an ihren Krücken zu erkennen. Das Personal nennt die Krücken lieber Gehhilfen, das klingt positiver. Die Orthopädie-Patienten haben in der Klinik einige Privilegien. Sie werden im Speisesaal am Platz bedient, weil sie wegen der Gehhilfen die Hände nicht frei haben, um das Tablett zu tragen. An den Tischbeinen gibt es Schellen aus Kunststoff, an denen sie ihre Krücken festklemmen können, damit niemand von ihnen stolpert. Stolpern wäre nicht so gut. Die Orthopädie-Patienten dürfen außerdem als einzige die Fahrstühle benutzen. Ihr Aktionsradius ist insgesamt sehr beschränkt, sie sind überall im Haus zu sehen.

Zuletzt kommen wir von der Inneren. Die Elenden. Wir Inneren müssen uns beim Ergometertraining mit Elektroden verkabeln, damit der Therapeut unseren Kreislauf überwachen kann. Die Elektroden haben Saugnäpfe, die der Therapeut an- und ausschalten muss. Am Anfang des Trainings saugen sie sich fest, am Ende fallen sie herunter. Die psychosomatischen Frauen lesen beim Ergometertraining ein Buch, die Orthopädie-Patienten haben die Fahrräder mit den bequemen Sitzflächen und dem tiefen Einstieg. Die Inneren sind daran zu erkennen, dass aus ihren T-Shirts oben und unten Kabel herauswachsen. Auf dem Ergometer kommen alle Patienten der Rehaklinik zusammen. Befreit sind nur diejenigen, die einen Rollator schieben, in dem eine Sauerstoffflasche liegt. Sie bilden das Schlusslicht in der Rehaklinik. Mit ihnen möchte niemand tauschen.

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Der kleine Psychologe mit der angenehmen Stimme hält vor unserer Gruppe einen Vortrag. Er beschreibt die fünf Phasen der Krankheitsbewältigung:

(1) Schock
(2) Verdrängung
(3) Emotion
(4) Verhandeln
(5) Akzeptanz und Bewältigung

Ich kannte dieses Schema bisher nur aus Artikeln über das Sterben, aber naja, es scheint universal einsetzbar zu sein. Zwischendurch meldet sich ein Mann aus der letzten Reihe, Berliner Akzent. Ob man denn alle Phasen durchmachen müsse oder ob man auch welche überspringen könne? Nein, sagt der kleine Psychologe mit der angenehmen Stimme sanft, die Phasen seien keine Pflicht, wichtig sei nur, dass man nicht mittendrin in einer Phase stehenbleibe. Okay, sagt der Mann mit dem Berliner Akzent, weil bei mir war es so, erst war ich natürlich geschockt, aber dann habe ich gedacht, einfach das Beste draus machen und ranklotzen, es muss ja weitergehen. Also ich bin gleich auf die Fünf.

Ich habe den starken Impuls, gleich mal hinzugehen und dem Streber eine reinzuhauen.

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Am Feiertag ist der kleine Ort voller Menschen. Usedom veranstaltet ein Strandfeuerwerk, das von Süden nach Norden wandert. Trassenheide muss daher warten, bis das fette Feuerwerk in Zinnowitz zu Ende ist, dann lässt die Kurverwaltung ein paar müde Raketen steigen, die wahrscheinlich von Silvester übriggeblieben sind. Passt schon. Das richtige Feuerwerk gibt es ohnehin jede Nacht und für immer: den Sternenhimmel über uns.

Peenemünde

Die Strecke führt durch eine eigentümliche Landschaft. Von Trassenheide fahre ich durch den Küstenwald bis nach Karlshagen und dort durch den ganzen Ort bis zum Peenestrom hinunter, der allerdings nicht zu sehen ist, weil die Wiesen südlich von Peenemünde eingedeicht sind. Hier wurden die Raketen gelagert, die Reste der gesprengten Bunker und Hallen liegen neben dem Weg. Schon von weitem erscheint das Kraftwerk am Horizont, für das Cover von Animals fehlt nur noch ein Ballon. Ich bin überrascht, dass in Peenemünde gebaut wird. Die beiden Blocks mit den Offizierswohnungen sind bewohnt und saniert. Sogar die Pappbude, in der ich 1990 gewählt habe, ist noch intakt und beherbergt einen kleinen Laden. Ich fahre eine Runde durch den Ort, die Baracken sind abgerissen, der Essenssaal auch, nur der MED-Punkt steht noch und in der Sporthalle ist jetzt ein Museum. Leergeräumt wird erst klar, wie winzig das Kasernengelände ist, auf dem wir eingesperrt waren. Im Hafenbecken liegen noch ein paar alte Marineschiffe, aber so groß ist mein Heimweh heute nicht. Ich sitze lieber in der Sonne und sehe auf das Festland hinüber. Ich bin jetzt drei Wochen auf dieser Insel. Mit der Eisenbahn zurück nach Trassenheide. Im Wald ist noch der alte Bahnsteig vom Arbeitslager zu sehen, der Zug fährt daran vorbei.