Schlagwort: Krankheit

Arzttermin. Die Warteschlange vor der Arztpraxis reicht die halbe Treppe runter. Es ist noch stiller als sonst, alle sind mit Atmen beschäftigt.

Die Schwester am Tresen erkennt mich nicht. Ich darf als Erster in den Ergometerraum und auf dem Fahrrad darf ich sogar die Maske abnehmen. Alle sind gut zu mir. Die Schwester erzählt von ihren Kindern, der und der darf dann und dann in den Kindergarten und in die Schule, alle vermissen ihre Freunde. Ab 150 Watt höre ich auf zu antworten. Der Erwartungswert ist 225 Watt, ich bin froh, als ich so weit komme. Kein Ehrgeiz für weitergehende Experimente.

Ich male mir jedes Mal vorher aus, wie sie mich dabehalten. Oh, Herr K., da ist etwas auf dem EKG, muss nichts Schlimmes sein, aber das muss abgeprüft werden, nur zur Sicherheit, Sie verstehen das sicher. Heute aber nicht, der Arzt ist zufrieden. Ich frage ihn nach dem Virus und bemerke, wie fein er sprachlich zwischen Risikogruppe und Hochrisikogruppe differenziert. Zur Hochrisikogruppe gehörte ich nicht. Das Wichtigste seien diese Dinger hier, sagt er und zeigt auf sein Gesicht. Aber wenn die Touristen das im Sommer mitbringen, bekäme er es sowieso als Erster. Passen Sie auf sich auf, sagt er und ich will am liebsten Sie auch! antworten.

Im November

Unruhe wegen eines Freundes, von dem ich seit vielen Jahren nichts mehr gehört habe. Ich gehe zu dem Haus, in dem seine Familie längst nicht mehr wohnt. Aber unter dem Dach ist Licht. Als ich an der Tür klingele, öffnet sein Bruder. So lange hätte ich mich nicht gemeldet und nun sei es auch zu spät. Er macht mir Vorwürfe, mir fehlen die Argumente. Aufgewacht.

Auf der Straße eine 20-Cent-Münze gefunden, es glänzte in der Sonne wie Goldstück. Das soll mir Glück bringen.

Im Büro stehen Änderungen bevor. Es wird auch höchste Zeit. Mir fehlt inzwischen die Kraft für Auseinandersetzungen, die zu nichts führen können. Auch eine Sache, die sich verändert hat: Ich will mich um so etwas nicht mehr kümmern oder ich kann es nicht mehr, eins von beiden.

Unbeantwortete Mails, nicht erledigte Anrufe, steckengebliebene Kommunikationen. Ich bin so schlecht in diesen Dingen, ich schaffe es noch nicht einmal, meine Freundschaften zu pflegen.

Ich vernehme eine Psychologin als Zeugin. Beim Rausgehen wünscht sie mir Alles Gute! Respekt, ich fühle mich durchschaut.

Alle in der Klinik bekamen einmal während ihres Aufenthalts den Chefarzt zu sehen. Er stellte sich vor den Saal, verdunkelte das Licht, streckte die Hände aus und sagte Ich möchte Sie trösten. Es erschien uns noch nicht einmal unpassend. Am Ende liefen seine Ratschläge auf zwei Sachen hinaus: Entspannung und dreimal in der Woche schwitzen. Wir gehen also wieder in die Muckibude. Ich sitze auf dem Ergometer, fahre 100 Watt und hoffe, dass ich es überstehe. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Es ist wie beim Baden im Sommer – ich habe keine Freude daran und bin froh, wenn ich wieder aus dem Wasser bin. Aber immerhin gehe ich rein.

Zweimal im Theater, Hamlet und Hamletmaschine. Zu meiner Überraschung ist es voll, wie vor dreißig Jahren. Liebe Theaterleute, vertraut doch einfach auf den Text. Der Rest ergibt sich dann von selbst.

Ich werde ihm noch einmal schreiben.

Denn was uns, wenn es da ist, nicht bedrängt, kann uns, wenn es erwartet wird, nur sinnlos bedrücken. Das Schauererregendste aller Übel, der Tod, betrifft uns überhaupt nicht; wenn wir sind, ist der Tod nicht da; wenn der Tod da ist, sind wir nicht. Er betrifft also weder die Lebenden noch die Gestorbenen, da er ja für die einen nicht da ist, die andern aber nicht mehr für ihn da sind.

– Epikur: Brief an Menoikeus (Übersetzung von Hans-Wolfgang Krautz)

Auf den ersten Blick ein tröstlicher Gedanke, auf den zweiten blendet diese Art von Philosophie wohl aus, dass der Mensch als ein soziales Wesen konstruiert ist.