Schlagwort: Flucht

Hauptbahnhof

Am Bahnhof wartet neben uns geduldig ein Mann, bis wir mit dem Fahrkartenautomaten fertig sind. Ob wir helfen könnten. Er zeigt ein Wochenendticket für drei Personen, sie wollten nach Dortmund. Es ist sehr optimistisch, mit einem Wochenendticket von Greifswald nach Dortmund zu fahren, vor allem, wenn es schon Nachmittag ist. Ich klicke mich durch die Fahrplanauskunft (Greifswald-Dortmund, nur Nahverkehr), die mir als nächste Verbindung einen Zug um 16.41 Uhr, drei Stunden Aufenthalt nachts in Bielefeld und eine Ankunft nach 7 Uhr anzeigt. Der Mann guckt ein wenig verzweifelt und zeigt mir auf seinem Smartphone einen Zug nach Berlin. Ich will die ganze Verbindung herunterscrollen, aber es ist nur ein Bildschirmfoto. Ich versuche, die arabischen arabischen Ziffern zu lesen, ein bisschen kann ich das noch und er lacht und liest es mir in einer Mischung aus Deutsch und Englisch vor. Abfahrt 14.41 Uhr (klar, es fährt alle zwei Stunden ein Zug), halb sechs in Berlin. Ich suche im Automaten Berlin-Dortmund, nur Nahverkehr, ab 18 Uhr und tatsächlich gibt es eine Verbindung, die morgens um halb vier in Dortmund sein soll. Letzter Umstieg kurz nach drei in Wanne-Eickel und für die letzte Stück brauche er eine neue Fahrkarte, das Wochenendticket gelte nur bis 3 Uhr, ich will ihnen Ärger ersparen. Ich drucke ihm alles aus, Greifswald-Berlin und Berlin-Dortmund, in Berlin müsse er im Bahnhof von ganz unter nach ganz oben und er nickt, das kennt er schon. Wir schütteln uns die Hände. Danke, Gute Reise.

Ostermontag

In der Stadt spricht mich ein Mann an und fragt nach einem Laden, in dem er eine SIM-Karte kaufen könne. Er komme aus Milano, Italy, Tourist und wolle einen Freund besuchen und habe nur dessen Nummer. Ich versuche zu erklären, dass heute kein einziger Laden offen hat, a christian holiday. Ich gebe ihm mein Telefon, es antwortet nur eine Mailbox. Ob ich dann wüsste, wo es Wifi gebe, sein Freund habe WhatsApp. Mir fällt ein, dass es im Sofa jetzt Freifunk gibt. Ein türkisches Restaurant, Türkiye, er nickt, kommst du aus der Türkei, er nickt wieder. Wir gehen hin. Der Mann ruft H. nochmal an, maybe he is still sleeping, beim zweiten Mal geht der Freund endlich ran, der Mann spricht Arabisch mit ihm und fragt nach seiner Adresse und schreibt etwas auf, damit könne er zu einem Taxifahrer gehen. Er zeigt mir den Zettel: vitospring, ich habe den Namen noch nie gehört. Ob H. deutsch sprechen könne, er lacht, nein, natürlich nicht. Ich rufe selbst bei H. an und verstehe den Straßennamen auch nicht. Er schickt seinen Standort mit Google Maps, Vitus-Bering-Straße. Ich biete dem Mann an, ihn dort hinzufahren, er ist erleichtert. Auf dem Weg erzählt er, dass er aus Syrien komme, a doctor for children, Baschar al-Assad habe ihr Viertel bombardiert. Er spricht dieses kehlige A und dieses rollende R und zeigt mit seinen Händen, wie die Bomben einschlagen. Seine Frau sei mit Baba und den Kindern in Jordanien, er selbst sei in Istanbul gewesen, dort sei es schwer für Syrer. Hoffentlich könne er Baba und seine Frau und seine Kinder bald nach Deutschland holen, niemand verdiene diesen Krieg. Ich denke an Dublin II und an die vielen irakischen Geschichten, die ich gehört habe, ich kann das nicht ausstellen und weiß nicht, was ich ihm glauben soll. Als ob das wichtig wäre. H. steht in der Tür und wartet schon auf uns. Sie umarmen sich dreimal, wir schütteln uns die Hände. Ich solle doch bitte zum Tee bleiben, aber ich bedanke mich nur und fahre zurück in die Stadt, ohne nach seinem Namen gefragt zu haben.

Bagdad

Als der dritte Golfkrieg vorbei war, hängte der Mann ein neues Schild an seinen Laden: Bagdad Döner.

Auf der Bank vor dem Geschäft sitzt sein Vater, das Gesicht in der Sonne, in den Händen hält er ein Glas mit schwarzem Tee, die Filzmütze liegt auf dem Tisch. Er blickt auf die Straße, ganz still, auf die Systembäckerei gegenüber, auf die vorbeilaufenden Menschen, auf die hungrigen Tauben auf dem Kopfsteinpflaster, fast so, als ob hier Al Mansour wäre und nicht die Fußgängerzone einer deutschen Kleinstadt, die einmal die Straße der Freundschaft war, als wir noch Ingenieure und Bauarbeiter nach Falluja schickten, um Fabriken zu bauen, Düngemittel für den Sozialismus von Baath.

Ich denke an die vielen irakischen Geschichten, die ich gehört habe, an den sunnitischen Hochzeitsänger, die yezidische Familie aus den Bergen bei Mosul, die traurigen Schiiten aus dem Süden, die Turkmenen aus Kirkuk, die so aufgeregt waren, die Assyrer mit ihrem zerstörten Alkoholgeschäft, den Mann von den Fedajin-Saddam, den kurdischen Jungen, der seine Braut verloren hatte, auf der Flucht vor der Blutrache, den Araber, den Evangelikale in einem Pool getauft hatten, an die Abenteurer, die Verzweifelten, die Peschmerga, die Märtyrer, die Staatenlosen, die Unklaren, an die Brandnarben, die Tränen, das Bitten, das Flehen, die Drohungen, an den Mann, der ohnmächtig geworden war vor Durst, an die Ölfelder, die Wüste nach Jordanien, die trockengelegten Sümpfe des Euphrat, das Kriegerdenkmal am Schatt al-Arab, an all die Geschichten, die erfundenen Geschichten, die wahren Geschichten, die ausgeschmückten Geschichten, die guten Geschichten, die schlechten Geschichten, die protokollierten Geschichten, laut diktiert, zurückübersetzt und genehmigt, eingefangen in ein paar Obersätze, rechtsmittelfest formuliert, an all die Fähren, Flugzeuge, Container, Ladeflächen, Toyota Pickups, die durchwateten Flüsse, das Gebirge an der Grenze inmitten von Kurdistan, die Schlepper, die vielen Dollars, den verkauften Familienschmuck, die Verwandten in Europa, an die verlorenen Pässe, die selbstgemachten Ausweise auf billigem Papier mit den verwischten Stempeln, die Passersatzpapiere mit räumlicher Beschränkung, den Einundfünfzig und die Arztberichte für den Dreiundfünfzig, wenn es für das kleine Asyl nicht gereicht hatte, an die Sachleistungen, die Gutscheine, das Taschengeld und das Flüchtlingsheim im Nirgendwo, die Gemeinschaftsunterkunft, an die Geduldeten, die Untergetauchten, die nicht mehr zu erreichen waren, weg, weiter auf dem Weg.

Der Tourette-Mann, der den ganzen Tag lang durch die Stadt läuft, setzt sich zu dem Vater auf die Bank. Sie unterhalten sich. Ich höre nicht hin.