Schlagwort: Flucht

#061

In der Muckibude ein hagerer schwarzer Junge, wahrscheinlich aus Somalia oder Eritrea. Er geht die Geräte von vorn nach hinten durch und steht jetzt etwas ratlos vor einer Macker-Maschine, mit der man dafür sorgen kann, dass die Oberarme nicht mehr in ein normales T-Shirt passen. Der Junge fragt mich, ob ich wisse, wie das Ding funktioniert. Ich weiß es nicht und wir versuchen zusammen, der Mechanik auf den Grund zu gehen (offenbar muss man die beiden Hebel nach vorn drücken, so wie die Riemen zu den Gewichten laufen, aber in welcher Richtung sitzt man eigentlich?). Wir kommen nicht weiter, er verabschiedet sich und sagt im Weggehen halblaut tack. Er muss aus Schweden sein, so wie er diese Floskel internalisiert hat. Die Schweden bedanken sich andauernd. Integration erfolgreich abgeschlossen.

Im Juni

Ich habe mich von meinem Schachserver abgemeldet. Ganz still und leise, Account gelöscht. Ich war elf Jahre dort, ein paar hundert Partien gespielt, Turniere organisiert und Mannschaftskämpfe, einen kleinen Club. Nette Leute, ich mochte die Seite sehr und ich würde dort noch sein, wenn sie kein Forum hätte. Kein allgemeines Forum zum Quatschen und Kennenlernen, keine freundliche Community. Vor zwei Jahren fing es an, die ersten User eröffneten Threads zu politischen Themen und seitdem hörte es nicht mehr auf: Medien, Flüchtlinge, Merkel. Die meisten kümmern sich nicht drum, aber wenn ich irgendwo bin, kann ich nicht meine Klappe halten. Wenn du Fakten bringst, bist du ein Besserwisser, wenn du nachfragst, bist du die Stasi und wenn du sie beschimpfst, bist du jemand, der die Stimmung in der freundlichen Community verdirbt. Am schlimmsten fand ich aber die, die sich alle paar Monate melden und die Diskutanten zur Ordnung rufen, das sei schließlich ein Schachserver und kein Kindergarten. Es gab gar keinen besonderen Anlass, nur einen Tropfen, der das Fass usw. und jetzt ist Schluss.

Heute mittag haben wir K. und T. auf der Straße getroffen, die zwei Häuser weiter wohnen. Spontanes Kaffeetrinken auf den Gartenmöbeln im Hof, das war sehr schön. Sie wohnen noch länger hier als wir und wollen wegziehen, auf irgendein Dorf mit großen alten Bäumen und mit Weite. Sie halten den Lärm nicht mehr aus, die Gegend hat sich sehr verändert und besser wird es nicht mehr, im Gegenteil. Die Nachbarn von nebenan sind schon fort.

Die alte Farbe abgekratzt, die seit unserem Einzug von der Decke im Bad hing. Das hat den ganzen Nachmittag gedauert. Anschließend extra Tiefengrund (Profis sagen Tiefgrund) aufgetragen, damit der zweite Versuch besser gelingt. Auflösung morgen. Das nächste Haus hat dann Sichtbetonwände.

Ich denke an meinen alten Chef, der bis vor kurzem Ministerpräsident war und von dem ich sehr viel gelernt habe. Als wir über einen gemeinsamen Kollegen sprachen: Sehen Sie, es gibt ein paar tausend Richter in Deutschland – die anderen können Sie auch nicht kontrollieren.

Die Schmerzen an der Rippe hören nicht auf.

#025

Der Tag mäandert dahin. Vormittags in der Bibliothek mit den Sichtbetonwänden. Alle Bücher zum Naturschutzrecht beiseite gelegt, die älter als fünf Jahre sind. Davon ist nichts mehr wahr, von meinem Studium ganz zu schweigen. Vielleicht sollte ich so ein juristischer Wutbürger werden: Schuldrechtsreform rückgängig machen! Europarecht abschaffen! Umgehende Wiederherstellung des Instituts des besonderen Gewaltverhältnisses! Mittags zeigt mir mein Physiotherapeut auf dem Flur der Klinik, wie ich richtig gehen soll. Das Knie gedanklich ganz leicht nach innen drehen, so wie wir es gerade geübt haben. Am Nachmittag im Büro ein plötzlicher Schreibfluss und ich bleibe länger.

Am Abend höre ich die Geschichte von der albanischen Familie, die heute morgen um halb sechs aus der Wohnung geholt wurde. Der Vater sollte mit den drei Kindern ins Flugzeug, der Antrag der kranken Mutter läuft noch. Die Familie hat Unterstützung, die Ausländerbehörde, Anwalt und Gericht abgeklappert haben. Die große Tochter durfte schließlich bei ihrer Mutter bleiben und am Ende fuhren auch die anderen drei vom Flughafen hierher zurück. Alles ist nur aufgeschoben.