Schlagwort: Barth

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Der Schulhof in Barth war asphaltiert. An der Stirnseite waren mit weißer Farbe Markierungen aufgebracht, für jede Klasse. Wenn es zum Reingehen klingelte, mussten wir uns dort klassenweise in einer Doppelreihe aufstellen, und wenn alle endlich stillstanden, nickte uns der Lehrer zu, der die Hofaufsicht machte, und wir durfte zurück in das Schulgebäude gehen. Es gab nur eine schmale Tür an der Seite der Schule, gegenüber vom Toilettenhäuschen. Der Haupteingang war verschlossen, und wahrscheinlich war das schon die Begründung für das ganze Verfahren: Wenn alle gleichzeitig versuchen würden, durch die einzige Tür zu kommen, würde es nicht funktionieren. Es musste geordnet ablaufen.

Als ich nach Greifswald kam, wunderte ich mich deshalb sehr, dass es auch anders ging. Kein Anstellen, keine Kommandos, wenn es klingelte, gingen alle einfach rein und wer cool war, wartete damit bis zum letztmöglichen Moment. Das war Freiheit.

Alte Heimat

Der Weg nach Barth führt über Velgast. Früher ging man in Velgast unter Aufsicht des Schaffners über die Gleise, wenn man umsteigen musste. Jetzt gibt es in Velgast keinen Schaffner mehr, aber eine Notrufsäule und einen tiefen, feuchten Tunnel, durch den wir die Fahrräder tragen. Auf der anderen Seite wartet der Triebwagen nach Barth. Hier fing die Darßbahn an.

Der Fahrradweg von Barth bis Bresewitz geht an der alten Bahntrasse entlang. Die Meiningenbrücke liegt im Dornröschenschlaf.

Wir fahren nicht über Zingst, sondern biegen vor dem Freesenbruch westlich ab und nehmen die alte, holprige Plattenstraße über die trockengelegten Wiesen. Hier war ich noch nie. Auf dem Prerowstrom kriecht ein als Raddampfer verkleidetes Ausflugsschiff an uns vorbei. Vor uns fliegt ein Graureiher.

Kurz zum Strand hinunter, der Ostsee Guten Tag sagen. Die Sturmflut hat die halbe Düne mitgenommen.

An Prerow fahren wir nur vorbei, weiter nach Wieck. Über der Wiese ein Rotmilan. Der Fahrradweg ist auf einmal vollkommen leer. Im Haus von Oma Wieck sind jetzt Ferienwohnungen, wie überall. Wir gehen auf den Hof, die Scheune und die Baracke sind auch längst fort, alles ist überbaut. Eine Frau kommt auf uns zu und erkennt mich. Auf dem Dorf wissen alle, wer du bist. Am Haus meiner Eltern vorbei. Das Saunahäuschen steht noch da und auch die Hecke haben meine Eltern gepflanzt. Aber der Carport ist vergrößert worden, natürlich. Der Sandweg zum Friedhof im Wald wurde asphaltiert. Auf dem Parkplatz darf man maximal drei Stunden stehen, mit Parkuhr. Drei Stunden müssen reichen für’s Traurigsein, stimmt schon.

In den ewigen Darßwald, bis Peters Kreuz. Dort biegen wir nach Süden ab und fahren nach Born. Am Hafen sitzen wir im kühlen Bauch des Walfischhauses, draußen ist Sommer. Wir warten auf die MS Heidi, die uns zurück aufs Festland bringt. Auf dem Koppelstrom Schwäne. Auf einer Wiese am Waldrand sehen wir Hirsche, einer geht zum Ufer, um zu baden. In Bodstedt steigen wir aus, für die letzten Kilometer der Rundreise ist der Ostwind gegen uns.

In Barth haben wir eine Stunde Zeit, bis der Zug fährt. Wir fahren noch einmal die alten Wege. Am Haus der Werktätigen vorbei, über den Friedhofswall zu unserem alten Garten, der kaum noch zu erkennen ist, vielleicht die alte Tür in der Laube und das Pflaster auf dem Weg. Rechts hinter dem Rathaus der Sportplatz, auf der alten Aschenbahn liegt jetzt Tartan, aber die Pappeln stehen noch. Den Teergang entlang, der in Wirklichkeit aus Betonplatten besteht, zu unserem Haus in der Schillerstraße 10, zum Spielplatz mit der Wippe, meinen alten Schulweg, über den Wall schließlich zurück zum Bahnhof. Die Bäume sind gewachsen und die Straßen sind kleiner geworden. Ein Tourist sein und zugleich zu Hause.

Als ich das Schachspielen lernte

In Barth gab es schon lange keinen Schachverein mehr. Die Barther, die im Verein spielen wollten, spielten bei Waterkant Saal. Das war ein Dorf am Bodden kurz vor Damgarten mit einer Vorzeige-LPG und zwei sehr aktiven Lehrern, die dem ganzen Ort Schach beibrachten. Dort hatten wir ein Sportlerheim. Das Sportlerheim war in Wirklichkeit eine Bude neben dem alten Sportplatz mit den Pappeln, in der sich die Fußballer umziehen konnten. Die Bude hatte einen Ofen, der manchmal nicht geheizt war, wenn am Sonntagmorgen aufgeschlossen wurde. Dann spielten wir in Winterjacken. An der Wand hinter Glas hingen ein paar Urkunden, Mannschaftsfotos und alle Grand Ouverts, die hier jemals gegeben worden waren: mit dem Datum und den Namen der Mitspieler, die sorgfältig nach Vorhand, Mittelhand, Hinterhand und Geber aufgelistet wurden.

Es gab in Barth aber Schachspieler. Es gab den klugen Lehrer mit dem schiefen Kopf und der angenehmen Stimme, der sehr erfolgreich Postkartenschach gespielt hatte, bis die Rechner kamen und Fernschach zu einer Disziplin für Administratoren machten. Es gab die Brüder aus meinem Verein, die in der Sundischen Straße wohnten und ab und zu für ein paar Wochen etwas Kindertraining im Haus der Werktätigen machten. Die Schachfiguren auf Zeit aufbauen und 25 Züge überstehen, ohne mattgesetzt zu werden, habe ich dort gelernt. Sie erzählten von der Zeit, als es in Barth noch einen Schachverein gegeben hatte und sie sonntagmorgens mit einem Auto mit Karbidofen in der Mitte durch den ganzen Bezirk Rostock zum Spiel gefahren waren. Es gab den Lehrer aus der Diesterwegschule am Wall, der manchmal eine Schach-AG am Freitagnachmittag gab. Ich ging gern dorthin, nach oben in dem alten Schulgebäude, das nach Linoleum und Kreide roch, auch wenn der Lehrer schlechter spielte als ich. Es gab V., der noch bei seinen Eltern wohnte, einen Schachcomputer mit Holzbrett hatte und alle Pink-Floyd-Platten auf Tonband. Mit ihm spielte ich Trainingspartien, er zeichnete mit seiner kleinen Handschrift die Züge auf und die Bedenkzeit für jeden einzelnen Zug, auch als seine Stellung schon längst hoffnungslos war. Es gab K., der mit seiner Mutter in einem verfallenen Haus in der Hafenstraße wohnte, schlaue Züge machte und ein paar Schachbücher aus den fünfziger Jahren hatte, die ich mir ausborgen durfte. Eines Tages schenkte er mir ein blaues Buch von Joseph Smith und wollte mit mir über Gott reden und dann bin ich nicht mehr hingegangen.

Später wurde in Barth wieder ein Schachverein gegründet, V. machte mit und K. auch. Sie spielten im Kulturhaus an den Anlagen, aber das hielt nicht lange. V. musste wieder ins Krankenhaus und danach ins betreute Wohnen und K. musste sonntags jetzt immer zum Gottesdienst nach Rostock fahren. Dort fand er eine Frau und zog weg. Die anderen bekamen keine Mannschaft mehr zusammen und hörten auf. Seitdem gibt es in Barth wieder keinen Schachverein mehr.