Nach Zempin

Durch die Lektüre einer Landkarte stellte sich heraus, dass die Entfernung zwischen einem Bahnhof auf Usedom und der Ostsee in Zempin am kürzesten ist. Außerdem gibt es dort eine hübsche Strandbar mit Fernweh. Der auflandige Wind aus Nordost machte schöne Wellen und wehte auf der Rückseite der Strandkörbe flache Mulden in den Sand. Dort konnten wir uns verstecken. Das Wasser war für Anfang Juni ungewöhnlich warm. Seit sechs Wochen hat es nicht mehr geregnet. Auch die Sommer werden anders werden, länger, windiger, heißer.

Auf der Hinfahrt ein Gespräch über die Verkehrswende mit einem Lokführer, der auf der Insel aushelfen sollte und zu seinem Einsatzort unterwegs war. Es sieht nicht gut aus.

#242

Auf R.s Grab stehen bunte Blumen und drei große überdimensionierte Schachfiguren: ein weißer Bauer, ein schwarzer Springer und ein weißer Turm. Am Sonntag war ich dort, zum ersten Mal seit seiner Beerdigung. Die Kirchturmuhr zeigte elf Uhr. In Kasachstan hatte gerade der Stichkampf zur Weltmeisterschaft begonnen. Die erste Schachweltmeisterschaft, bei der er nicht zuschauen konnte. R. war der treueste Schachzuschauer, den man sich denken kann. Ich weiß nicht, ob ihm das Ergebnis gefallen hätte.

#241

Vor der Kaffeebar in der Fußgängerzone hatte jemand ein Schachbrett aufgebaut. Als er meinen erstaunten Blick sah, lud er mich zu einer Partie ein. Ich sagte, dass ich aber ziemlich gut spiele, worauf er erwiderte, dann würde er wenigstens etwas lernen. Was er denn in der Stadt mache, wollte ich wissen. Er habe einen Luftwechsel gebraucht und es gefalle ihm hier gut. Seine Promotionsarbeit sei fast fertig, aber noch nicht ganz. Mathematik. Ich fragte ihn nach dem Thema. Seine Antwort kann ich schon jetzt, wenige Stunden nach unserer Schachpartie, nicht mehr wiedergeben. Irgendetwas mit symmetrischen Strukturen geometrischer Körper im höherdimensionalem Raum. Er versuchte, es mir zu erklären. Ich war mir nicht sicher, ob er sich die ganze Geschichte gerade in diesem Moment ausgedacht hatte, der Gegenstand seiner Erzählung konnte für mich genauso gut ein Märchen wie eine wissenschaftliche Arbeit sein. Wenn etwas unserer Vorstellungsvermögen übersteigt, ist es Wunder und Wirklichkeit zugleich.