Als die friedliche Revolution nach Barth kam

Als der Monat Oktober schon fast zu Ende war, dachten die Leute in Barth, dass man langsam auch mal hier etwas für die Revolution tun müsse. Obwohl damals ja noch niemand von einer Revolution sprach. Erich Honecker war gerade verabschiedet worden und Egon Krenz hatte im Fernsehen angekündigt, dass man jetzt eine Wende einleiten werde. Das klang ein bisschen beängstigend, obwohl die Leute in Barth Egon Krenz ja kannten. Der hatte ein Haus in Dierhagen, das, was man damals eine Villa nannte, als man noch nicht wusste, wie eine Villa aussieht. Und manchmal besuchte Egon Krenz dann wohl seine Schwiegermutter in Barth und spazierte durch die Stadt und grüßte freundlich die Leute und die Leute wussten vor Schreck gar nicht, wie sie sich verhalten sollten. Aber jetzt hatte Egon Krenz keine Zeit mehr dafür, der Sommer war vorbei und viele Leute waren aus dem Urlaub gar nicht mehr zurückgekommen und deshalb musste Erich Honecker weg und die Wende eingeleitet werden. Wenn man heute von der Wende spricht, dann zitiert man also eigentlich Egon Krenz und vielleicht sagen die Leute darum jetzt lieber Revolution oder noch besser friedliche Revolution, denn von Revolution hatten Erich Honecker und Egon Krenz ja selbst häufig gesprochen. Man kann da schnell durcheinander kommen.

Jedenfalls überlegten sich die Leute in Barth, dass sie auch ein Friedensgebet machen könnten. Friedensgebete waren nicht verboten, das waren ja kirchliche Veranstaltungen, Freiräume unter dem Dach der Kirche, wie man so sagte, dagegen konnte der Staat nichts machen. Und obwohl es ja noch keine Handys gab und kein Twitter und nicht diese sozialen Netzwerke (also eigentlich gab es natürlich jede Menge sozialer Netzwerke, aber nur offline, gewissermaßen) und man ja nicht eine Ankündigung in die Zeitung setzen konnte, sondern höchstens einen Zettel in den Schaukasten mit den kirchlichen Nachrichten, war das dunkle gotische Kirchenschiff voll mit den Leuten aus Barth und alle strahlten sich an und waren aufgeregt und warteten, was jetzt passieren würde. Der Organist fing schließlich an mit der Revolution. Er stellte sich in den Mittelgang mit einem Zettel in der Hand und sprach von 1953 und 1956 und 1968 und von Solidarność, so diese Sachen. Der Superintendent erzählte von einem Gesprächsangebot des Bürgermeisters und dass man am nächsten Tag ins Rathaus gehen und einen Dialog mit dem Staat führen könne und auf der Straße würden man keine Gesprächspartner finden. Damit meinte er natürlich die Demonstration. Aber die Leute aus Barth waren ja gerade in die Kirche gekommen, um hinterher zu demonstrieren, so wie sie es bei den anderen Leuten gesehen hatten und die meisten gingen dann noch zusammen die Ernst-Thälmann-Straße runter. Ein paar Leute verteilten am Ausgang Handzettel und wollten das Neue Forum auch in Barth gründen, aber dazu ist es dann nicht mehr gekommen.

Auf der Rückfahrt von Angermünde sitzt eine schwedische Frau mit ihren Kindern im Abteil. Als wir die Peene überqueren, fängt sie an, ihren Kindern von Schwedisch-Pommern zu erzählen, vom Dreißigjährigen Krieg und von Gustav II Adolf, dem Beschützer der Protestanten. Hier sei 150 Jahre lang Schweden gewesen, sagt sie. Wir gucken versonnen aus dem Fenster, auf den Fluss, auf die großen Speicher und auf das Bootshaus in Faluröd. Der Zug rumpelt über die Brücke. Die Geschichtsstunde ist zu Ende.

Wie ich einmal an der Volkskammerwahl teilnahm und beinahe die deutsche Einheit verhindert hätte

Den 18. März 1990 verbrachte ich in Peenemünde. Hitler hatte dort mal versucht, den Weltkrieg doch noch zu gewinnen, ohne Erfolg. Danach war die Volksmarine in die vorhandenen Baracken gezogen und auf die freien Flächen dazwischen hatten sie noch ein paar neue Kasernen gebaut. Der Wald lag voller Munition und war gesperrt. Volksmarine bedeutete blaue Uniformen mit blanken Knöpfen, gestreifte Pullis und einen warmen Rollkragenpullover. So als ob wir zur See fahren würden und richtige Matrosen wären. Und wir mussten nicht in einen Panzer kriechen. Man konnte aufs Wasser gucken und am Kai lagen ein paar Schiffe. Es hätte schlimmer kommen können.

Sonntags wurden wir erst um sieben geweckt und es gab Weißbrot und Kakao aus Porzellankannen. Die Entlassungskandidaten ließen sich von uns auf der Stube bedienen. Der 18. März 1990 war auch ein Sonntag. Die Angehörigen der bewaffneten Streitkräfte wählten an ihren Standorten. Immerhin hatten sie kein Wahlbüro in der Kaserne eingerichtet. Wir durften also aus dem Tor rausmarschieren und zur zivilen Wahlkabine im Ort ziehen. Wenn man in Peenemünde überhaupt von zivil sprechen konnte. Im Dorf wohnten die Offiziere mit ihren Familien und wahrscheinlich der Koch und die Kellnerin aus der örtlichen Kneipe, die ausschließlich von unglücklichen kurzhaarigen Jungs frequentiert wurde. Leuten wie mir. Ein paar Zivilangestellte gab es vielleicht auch noch. Und jemanden für die Bahnschranke. Waren noch Fischer im Dorf? Ich glaube eigentlich nicht.

Das war überhaupt die erste Wahl in meinem Leben, und ich war ganz schön aufgeregt. Balkendiagramme, Tortendiagramme, Prozentrechnung – das ganze mathematische Programm! Ich hatte mich richtig vorbereitet und aus dem Neuen Deutschland und der Jungen Welt die Artikel ausgeschnitten, in denen die ganzen neuen Parteien vorgestellt wurden. Neues Deutschland und Junge Welt waren die Zeitungen, die die Volksmarine für uns abonniert hatte. Wegen der politischen Bildung wahrscheinlich, aber der Politunterricht hatte schon mehrere Monate nicht mehr stattgefunden und die Politoffiziere mussten jetzt wahrscheinlich den Exerzierplatz fegen oder so. Es war eine stille Zeit. Die Waffen waren längst eingefettet und weggeschlossen. Es gab keine Anweisungen mehr. Das riesige Telefaxgerät mit der kyrillischen Tastatur schwieg beleidigt und das Telefaxgerät mit den lateinischen Buchstaben bekam nur noch zweimal am Tag den Seewetterbericht. Die Staatssicherheit in der Etage über jener Telefonzentrale, in der ich Dienst tat, war schon im Januar ausgezogen. Ich konnte mich selbst davon überzeugen, weil ich jetzt auch noch dort die Toiletten putzen musste. Obwohl sie nicht mehr benutzt wurden. Aber vielleicht wollte man sich alle Möglichkeiten offenhalten. Im Dezember noch hätte ich nicht mal die Treppe hochgehen dürfen. Alle taten ein bisschen so, als ob wir noch eine richtige Armee wären, machten einfach weiter und warteten ab, was passieren würde. Manche träumten vielleicht von der Konterrevolution und manche studierten schon die Besoldungstabellen der Bundeswehr.

Eigentlich wollte ich die DDR nicht gleich wieder loswerden, nachdem sie gerade begonnen hatte, liebenswürdig zu werden. Aber man konnte ja wohl nicht ernsthaft diese Partei wählen, die jetzt erzählte, sie hätte es schon immer ein bisschen fetziger haben wollen, sei daran aber leider von diesem Honecker gehindert worden. Es roch irgendwie nach diesen Berufsjugendlichen von der FDJ-Bezirksleitung. Ich wählte dann eine Liste, die am Ende genau einen Abgeordneten in die Volkskammer schicken durfte. Der Mann hatte einen schwarzen Rauschebart, und ich habe mir manchmal angehört, was er in der Volkskammer sagte. Ich war mit meiner Entscheidung sehr zufrieden und wenn ich heute darüber nachdenke, bin ich es immer noch. Ich wollte schon immer bei den Verlierern sein.

Ich erinnere mich, dass an diesem Abend am 18. März 1990 plötzlich jemand über den Flur rief, die PDS habe gewonnen. Heh, wir machen doch weiter mit der DDR, dachte ich für einen Moment und mein Herz pochte. Aber er meinte natürlich nur unser kleines Wahlbüro in dieser Gemeindebude aus Pappe. Wenn es damals nach Peenemünde gegangen wäre, würde es die DDR heute noch geben. Vielleicht aber auch nicht. Ist jetzt sowieso egal. Wir bekamen dann diesen Bluespfarrer als Minister. Keine Ahnung, ob er mal unsere Kaserne besucht hat, ich habe davon jedenfalls nichts mehr mitbekommen. Im April gab es endlich dieses Zivildienstgesetz und ich konnte nach Hause fahren. Den Ringelpulli habe ich mitgehen lassen. Den brauchte dort ja niemand mehr.