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Bornholm, Brüder

In diesem Sommer habe ich zwei Dinge zum ersten Mal in meinem Leben gemacht: mit dem Fahrrad um Bornholm fahren, Urlaub mit meinen Brüdern. Wir hatten ursprünglich ein etwas anspruchsvolleres Ziel, sind dann aber aus verschiedenen Gründen in der Nähe geblieben. Es war eine schöne Reise.

1. Rønne nach Pedersker

Die Fähre nach Bornholm hat eine sehr hilfreiche Einrichtung: Es gibt einen Schlafsaal auf dem Schiff. So sind wir einigermaßen ausgeschlafen, als wir am Nachmittag in Rønne ankommen. Als wir uns über die Landkarte beugen, ist für mich klar, dass wir die Insel im Uhrzeigersinn umrunden würden. Erst in Richtung Norden, in die Berge und Städte, dann ins Flachland. Ich halte das für eine Art Naturgesetz, aber C. kennt den Wetterbericht und meint, dass wir den starken Westwind doch als Zeichen nehmen sollten, zunächst mit natürlicher Unterstützung nach Südosten zu fahren. Einfach mal treiben lassen. Das tun wir dann auch. Am Flughafen vor der Stadt ist gerade ein Luftfahrzeug in Bewegung, C. kann uns den ganzen Vorgang genau erklären. Wir bleiben am Boden und kommen auf diese Weise bis nach Pedersker, wo A.s Wunsch in Erfüllung geht, in einem Shelter im Wald zu übernachten. Ein Shelter ist eigentlich eine Holzhütte ohne Fenster und ohne Fassade. Akustisch ist das ungefähr so, als würde man versuchen, in einer riesigen Tuba einzuschlafen. Schwierig wird es, wenn auch die anderen Personen im Schlaf Geräusche machen. Eine Tuba ist kein Holzblasinstrument, ich weiß schon, aber es geht mir um den Vergleich.

2. Pedersker nach Nexø

Am Abend stellt C. mit Erstaunen fest, dass wir keine zehn Kilometer Luftlinie zurückgelegt haben. Bornholm ist wirklich nicht groß, normalerweise schafft er das an einem Tag. Andererseits wäre es dann keine Reise. Wir lassen uns Zeit, laden am Fahrradrastplatz in Sømarken die elektrischen Geräte auf, baden an der besten Badestelle der Insel und würden wahrscheinlich auch noch auf den Leuchtturm in Dueodde steigen, wenn der Leuchtturmwärter nicht um 14 Uhr Feierabend gemacht hätte. Nicht alle Teilnehmer mit Höhenangst sind darüber unglücklich. Im Hafen von Nexø ist der Tiefpunkt der Reise erreicht. Wir haben Hunger und eine ungewisse Bleibeperspektive. Beim Shelter am südlichen Stadtrand sitzen zwei freundliche junge Männer mit einem großen Vorrat an Alkohol am Lagerfeuer. Am Ende landen wir auf dem Zeltplatz am nördlichen Stadtrand. C. marschiert in die Fischräucherei nebenan und es wird noch ein fröhlicher Abend.

3. Nexø nach Rø Plantage

Die längste Etappe. Wir beschließen, dass Starving kein gutes Konzept für einen Urlaub ist. Ab jetzt essen wir auch mittags etwas, angefangen bei einem allerliebsten Imbiss am Ortseingang von Svaneke. Kaum zu glauben, wie langsam man mit fünf Leuten in so einer Holzhütte arbeiten kann. Die Raumschiffe auf diesem Planeten fliegen weit unter Lichtgeschwindigkeit. Wir adaptieren noch. Danach folgt der heftigste Anstieg der Fahrt, als die Küstenstraße nicht mehr Küstenstraße bleibt, sondern einen großen Bogen ins Inselinnere macht. Baden und Stadtbesichtigung in Gudhjem — rückblickend bin ich erstaunt, was wir an diesem Tag alles geschafft haben. Gudhjem wird gemeinsam als der schönste Ort der Insel bestimmt. Trotzdem bleiben wir nicht hier. Der Shelter am Meer ist mit fröhlichen argentinischen Jungs belegt, also fahren wir noch einmal hoch in den Wald in der Mitte, wo wir schließlich auf einer Lichtung in Rø Plantage einen Übernachtungsplatz finden, auf dem wir mit den Sternen und einem Trockenklo ganz allein sind. Es ist wunderbar.

4. Rø Plantage nach Sandvig

Am vierten Tag kommt die Wärme. Der Rest des Weges entlang der Nordküste ist zum Glück nicht mehr weit. Wir haben genug Zeit, um die Treppen bei den Helligdomsklipperne hinabzusteigen, und A. springt dort sogar ins Wasser. Am Nachmittag machen wir Pause in Tejn und ich schlafe im Schatten der Hafenmauer ein. Trotzdem kommen wir rechtzeitig auf dem Zeltplatz in Sandvig an, um zu baden, zu kochen und (endlich einmal ohne Gepäck) zum kleinen Leuchtturm an der Nordwestspitze der Insel zu fahren. Wir stehen an der Westküste und schauen der Sonne dabei zu, wie sie hinter dem Meer untergeht. Aus der Ferne trägt der Wind Partymusik herüber. Als es Nacht wird, hängt ein riesiger gelber Mond über dem Platz und scheint hinunter auf den Strand und die Hotels dahinter. Als es Mitternacht wird, fahre ich mit dem Fahrrad los, immer der Musik entgegen, und komme nach zwei Kilometern am Festzelt der örtlichen Abiturfeier an. Ich frage nach, wie lange es noch dauern wird, und mit diesem Wissen kann ich endlich einschlafen.

5. Sandvig nach Rønne

Am fünften Tag kommt die Hitze. Wenn ich nach einem Rat gefragt werde: Schaut euch die Festungsruine besser an einem bewölkten Tag an. In Hasle machen wir an der Fischräucherei zwei Stunden Pause, ab und zu gehe ich auf die Toilette und schütte mir Wasser über den Kopf. Es ist schon spät, als wir in Rønne auf dem Zeltplatz ankommen. Wir kochen nicht, sondern fahren in die Stadt und zum Glück überredet uns C., uns an einen Tisch vor der Tapas-Bar zu setzen und das große Menü zu bestellen. Mit jedem Gang wird die Luft angenehmer. Im Club auf der anderen Straßenseite beginnt die nächste Abiturfeier. Auf dem Radarbild der Wetter-App nähert sich langsam eine Gewitterfront. Als wir im Zelt liegen, bricht das Unwetter los. Diesen Abend werde ich mir lange merken. Frühmorgens plündern wir die Bäckerei und fahren hinunter zum Hafen, wo das Schiff mit dem Schlafsaal schon auf uns wartet.

Noch eine Familiengeschichte

Über das Zeitungsportal der Deutschen Digitalen Bibliothek bin ich auf diesen Bericht im Hamburger Fremdenblatt vom 12. Dezember 1901 gestoßen.

Schwerer verlief der Unglücksfall des Dampfers „Achroite“, den wir gestern auch telegrafisch mitteilten. Der englische Kohlendampfer „Achroite“ aus Glasgow, von Hamburg in Ballast nach der Tyne bestimmt, trieb am Montagabend mit gebrochenem Schaft in der Nähe von Helgoland unter Notsignalen, Hilfe verlangend. Gegen 3 Uhr heute Nacht traf der von der Nordsee nach Hamburg bestimmte Hamburger Fischdampfer „Erna H.H.“ den „Achroite“ in seiner hilflosen Lage an und erbot sich, denselben ins Schlepptau zu nehmen. Bei diesem Versuch geriet „Erna“ unter das Heck der „Achroite“, eine schwere See hob zu gleicher Zeit den „Achroite“, so dass derselbe dann auf „Erna“ fiel, dieselbe so schwer beschädigend, dass sie sofort sank; von der gesamten Mannschaft rettete sich nur der Netzmacher Josef Reichelt an Bord der „Achroite“, so dass neun Mann leider ihren Tod in den Wellen fanden. „Achroite“ verlor bei dieser Kollision das Ruder, den Hintersteven, Schraube und ist am Heck überall schwer beschädigt.

Von anderer Seite wird über den furchtbaren Schiffsunfall noch Folgendes berichtet: Die „Erna“ machte sofort alle Anstrengungen zur Rettung des bedrängten „Achroite“, sie kam näher und versuchte, eine Schlepptrosse nach dem gefährdeten Schiffe auszubringen. Nach vielen vergeblichen Versuchen fuhr die „Erna“ schließlich ans Heck des „Achroite“, um hier eine Schlepptrosse entgegenzunehmen. Dieses wurde zum Verhängnis. Die hochgehende See warf den „Achroite“ gleich einem Spielball empor. Das Schiff bäumte sich hoch auf, vergrub dann die Back tief in die See, um gleich darauf beim Wiederausrichten das Heck niedersinken zu lassen. Ein entsetzliches Krachen erfolgte: Das Heck des „Achroite“ war direkt auf die „Erna“ niedergefallen. In äußerst kurzer Zeit wiederholte sich der vorbeschriebene Vorgang: Das Heck des „Achroite“ donnerte noch einmal auf die „Erna“ nieder, dass letztere sogleich auseinanderbarst und in die Tiefe sank. Die aus Kapitän und neun Mann bestehende Besatzung der „Erna“ schwamm auf den wildempörten Wogen umher. Die Mannschaft des „Achroite“ musste zum eigenen Entsetzen untätig zusehen, wie die Leute von den gierigen Wellen verschlungen wurden, denn sie konnten nicht helfen, da ihr Schiff so stark schlingerte, dass bald die eine, bald die andere Seite des „Achroite“ ins Wasser tauchte. Das erschütternde Unglück hat sich in sehr kurzer Zeit vollzogen. Nur der Netzmacher Josef Reichel, ein im Jahre 1881 in Neustadt (Oberschlesien) geborener junger Mann, konnte an Bord des „Achroite“ gerettet werden. Alle übrigen braven Leute von der „Erna“, Kapitän und acht Mann sind ertrunken. Es sind 1) Kapitän H. Lühmann, gebürtig im Jahre 1869 zu Borstel, ansässig zu Leeswig, 2) Steuermann August Kalhorn, geboren im Jahre 1870 zu Alt Passarge in Mecklenburg, 3) Maschinist Herrmann Wagner, geboren im Jahre 1867 zu Fischau bei Danzig, 4) Zweiter Maschinist Arthur Proschinsky, geboren im Jahre 1869 zu Reudnitz, ansässig in Leipzig, 5) Heizer Wilhelm Wiechmann, geboren im Jahre 1377 zu Hoppenrade, ansässig in Fense, 6) Koch Wilhelm Dierking, 1870 in Rönnebeck geboren, in Geeste ansässig, 7) Matrose Heinrich Turowsky aus Burg in Dithmarschen, 1878 geboren, 8) Matrose Paul Engel, 1883 zu Bützow geboren, in Wismar ansässig und 9) Matrose Majus Poulsen aus Nakskov, 1881 in Sandby geboren. Diese sämtlichen neun Personen haben den Seemannstod erlitten.

Am Dienstagmittag traf der englische Dampfer „Corennie“ den „Achroite“ und versuchte denselben zu schleppen, jedoch zerrissen bei der hohen See bald dessen gesamte Trossen, so dass der dann eintreffende Hamburger Schleppdampfer „Vulcan“ zu Hilfe genommen wurde. Hierauf traf dann „Vulcan“ den „Achroite“ schleppend und „Corennie“ denselben steuernd, und nachdem unterwegs der Hamburger Schlepper „Tell“ noch ebenfalls angenommen wurde, der Schleppzug gegen 8.30 Uhr auf der Cuxhavener Reede ein. Von hier ging „Achroite“ im Tau der Schlepper „Vulcan“ und „Tell“ nach Hamburg auf.

Von den Verunglückten war nur der Steuermann Kalhorn verheiratet. Der brave Schiffsführer Kapitän Lühmann war verlobt und beabsichtigte, Weihnachten seine Hochzeit abzuhalten. Der Fischerdampfer „Erna“ ist 1890 erbaut, das Schiff ist 30 Tonnen groß und hat eine 250-pferdige Maschine.

August Kalhorn aus Alt Passarge in Ostpreußen (nicht Mecklenburg, hier irrt der Artikel) war der Bruder meines Urgroßvaters Georg, der auf den Darß gezogen war. Drei weitere Brüder sind im Ersten Weltkrieg gefallen. August war verheiratet mit Margarete Kinau aus Finkenwerder, einer Schwester von Gorch Fock. Das alles wusste ich bis gestern nicht.

Bücher

In unserem Viertel gibt es jedes Jahr einen Stadtteilflohmarkt. Die Leute bauen vor ihrem Haus einen Tisch mit ihren Sachen auf und setzen sich dahinter. In unserem kleinen Literaturhaus im Viertel gibt es dann immer einen Bücherflohmarkt. Die Leute können in den Wochen davor zu uns kommen und alle Bücher abgeben, die sie nicht mehr haben wollen. Alles, was reinkommt, ordnen wir ein bisschen, packen es in Pappkartons und stellen es in den Garten. Den größten Schrott sortieren wir vorher aus. Alle Einnahmen gehen an das Literaturhaus, gemeinnützig, kein Gewinn, wie das so ist. Mit Lesungen und einer Galerie kann niemand Geld verdienen.

Aber die gute Tat kommt hinterher. Alle Bücher, die niemand haben wollte (das sind die meisten), stellen wir neben die Eingangstür. Am nächsten Morgen kommt ein Trupp von der Diakonie und nimmt sie mit. Sie trennen den Einband vom Buchblock und recyceln das Papier. Ich glaube, sie bekommen sogar etwas Geld dafür. Die Leute von der Diakonie sind meine Helden. Sie tun das, was keiner tun will: Sie werfen Bücher weg. Sie erhöhen die Ordnung. Sie reduzieren Entropie. Sie befreien die Leute von Dingen, die sie nicht mehr haben wollen, die aber noch mit Sinn aufgeladen sind. Leute, die denken, dass es bestimmt noch jemanden gibt, der das 21-bändige Lexikon mit dem Stand von 1992, leicht angestoßen, gebrauchen kann und der zu Hause genug Platz im Regal hat. Aber die Leute hatten den ganzen Nachmittag Zeit, das Lexikon abzuholen, und wer kein Geld hatte, musste auch nichts bezahlen. Niemand wollte es mitnehmen. Jetzt kommt es weg.

Wir sollten ein Plakat aufhängen: Alle Bücher, die heute nicht verkauft werden, landen morgen im Papiercontainer. Aber das machen wir nicht. Wir arbeiten nicht mit dem schlechten Gewissen der Leute, das wäre nicht fair. Die Leute denken wahrscheinlich, wir räumen abends alle Bücher auf den Dachboden unseres kleinen Literaturhauses oder in den Bücherbaum an der Europakreuzung oder ins Sozialkaufhaus oder in die Bücherscheune. Irgendwohin, wo sie gebraucht werden. Meinetwegen.

Als ich abends nach Hause ging, hatte ich einen kleinen Karton unter dem Arm, halb voll.