Kategorie: Weblog

Gesichter

Herr Buddenbohm brauchte einen neuen Personalausweis:

Ich stand dann einen Moment etwas entgeistert vor dem Gerät. Denn das Bild zeigte, als es endlich bei Kinn und Bartlinie angekommen war und das Gesicht vollständig freigab, nicht etwa mich, wie ich selbstverständlich erwartet hatte. Es zeigte vielmehr in aller Deutlichkeit meinen Vater.

Das Erlebnis hatte ich in diesem Jahr, als die Optikerin ein Foto von mir mit dem in Aussicht genommenen Brillenmodell machte (ich selbst konnte mich durch die Gläser ohne Stärke nicht im Spiegel erkennen) und es mir zeigte. Aus dem Bild sah mich mein Vater an.

Mein Personalausweis ist schon lange abgelaufen, aber der Reisepass ist noch gültig.

Nach dem Skatabend ein Gespräch mit einem Mitspieler aus der letzten Runde:

– Fährst du eigentlich LKW?
– Ich habe einen LKW-Führerschein, aber ich bin lange nicht mehr gefahren.
– Du bist also kein Fahrer?
– Ich glaube, meine Berechtigung ist inzwischen auch entfallen, die muss man regelmäßig erneuern, denke ich.
– Ich meine als Beruf?
– Nein, ich bin kein Fahrer. Wie kommst du darauf?
– Bei uns hat mal einer gearbeitet, der ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich hätte wetten können, dass du das bist. Wirklich erstaunlich.
– Das ist ja ein Ding. Wie heißt der denn?
– Der heißt R.V., er kommt aus Wolgast.
– Das kann ich nicht sein, ich bin aus Barth.

Rewind Ringo (10)

Auch diesen Teil der Serie habe ich lange vor mir hergeschoben, und wahrscheinlich gab es auch dafür Gründe.

Mit Vertical Man (1998) beginnt das dunkle Zeitalter, in dem kein Vinyl mehr gepresst wird. Ringo ist ein großer Liebhaber der Compact Disc, aber der große Speicherplatz kommt ihm hier nicht entgegen, das Album ist für das musikalische Material etwas zu lang. Gleichzeitig beginnt hier die Ära Mark Hudson, die später im Streit enden sollte, was auch der Grund dafür sein könnte, dass die Platte bis heute nicht gestreamt werden kann. Ich mag Mark Hudson, der sich im Post-Beatles-Universum einige Verdienste erworben hat und unter anderem Harry Nilsson und Joey Molland produzierte.

Vertical Man ist definitiv eines der stärksten Ringo-Alben. An vielen Stellen kommt es den Beatles wieder näher. King of Broken Hearts ist eindeutig der beste Song der Platte, die Melodie ist eingängig und schön, es gibt eine Bridge, ein Mellotron und Streicher, und George Harrison spielt ein hinreißendes Solo auf der Slide-Gitarre. La De Da ist ein Singalong mit einer kaum versteckten Anspielung auf Ob-La-Di, Ob-La-Da. Überhaupt ist das Album voller Hooks, die meisten Songs kommen mir beim Lesen der Trackliste wieder in den Kopf. I’m Yours ist ein Schlaflied mit einem Streicherarrangement von George Martin und erinnert an das letzte Stück des Weißen Albums, was ja keine schlechte Referenz ist.

Natürlich gibt es auch schwächere Songs. Warum Love Me Do noch einmal aufgenommen werden musste, ist nicht zu verstehen. Wahrscheinlich ist Ringo immer noch traumatisiert, weil er bei den Aufnahmen 1962 durch Andy White ersetzt wurde (zu Unrecht!), aber die Mundharmonika auf diesem Stück sollte John Lennon spielen und niemand anders. Und Mindfield zitiert überdeutlich We Didn’t Start the Fire, aber bei aller Liebe: Ringo Starr und Mark Hudson sind keine besseren Songschreiber als Billy Joel.

Trotzdem ist das Album absolut empfehlenswert, ich wünsche mir eine gekürzte Ausgabe auf Vinyl. Und die folgende Platte, die ich in den nächsten Wochen endlich ausführlich hören darf, sollte tatsächlich noch ein bisschen besser werden.

Bornholm, Brüder

In diesem Sommer habe ich zwei Dinge zum ersten Mal in meinem Leben gemacht: mit dem Fahrrad um Bornholm fahren, Urlaub mit meinen Brüdern. Wir hatten ursprünglich ein etwas anspruchsvolleres Ziel, sind dann aber aus verschiedenen Gründen in der Nähe geblieben. Es war eine schöne Reise.

1. Rønne nach Pedersker

Die Fähre nach Bornholm hat eine sehr hilfreiche Einrichtung: Es gibt einen Schlafsaal auf dem Schiff. So sind wir einigermaßen ausgeschlafen, als wir am Nachmittag in Rønne ankommen. Als wir uns über die Landkarte beugen, ist für mich klar, dass wir die Insel im Uhrzeigersinn umrunden würden. Erst in Richtung Norden, in die Berge und Städte, dann ins Flachland. Ich halte das für eine Art Naturgesetz, aber C. kennt den Wetterbericht und meint, dass wir den starken Westwind doch als Zeichen nehmen sollten, zunächst mit natürlicher Unterstützung nach Südosten zu fahren. Einfach mal treiben lassen. Das tun wir dann auch. Am Flughafen vor der Stadt ist gerade ein Luftfahrzeug in Bewegung, C. kann uns den ganzen Vorgang genau erklären. Wir bleiben am Boden und kommen auf diese Weise bis nach Pedersker, wo A.s Wunsch in Erfüllung geht, in einem Shelter im Wald zu übernachten. Ein Shelter ist eigentlich eine Holzhütte ohne Fenster und ohne Fassade. Akustisch ist das ungefähr so, als würde man versuchen, in einer riesigen Tuba einzuschlafen. Schwierig wird es, wenn auch die anderen Personen im Schlaf Geräusche machen. Eine Tuba ist kein Holzblasinstrument, ich weiß schon, aber es geht mir um den Vergleich.

2. Pedersker nach Nexø

Am Abend stellt C. mit Erstaunen fest, dass wir keine zehn Kilometer Luftlinie zurückgelegt haben. Bornholm ist wirklich nicht groß, normalerweise schafft er das an einem Tag. Andererseits wäre es dann keine Reise. Wir lassen uns Zeit, laden am Fahrradrastplatz in Sømarken die elektrischen Geräte auf, baden an der besten Badestelle der Insel und würden wahrscheinlich auch noch auf den Leuchtturm in Dueodde steigen, wenn der Leuchtturmwärter nicht um 14 Uhr Feierabend gemacht hätte. Nicht alle Teilnehmer mit Höhenangst sind darüber unglücklich. Im Hafen von Nexø ist der Tiefpunkt der Reise erreicht. Wir haben Hunger und eine ungewisse Bleibeperspektive. Beim Shelter am südlichen Stadtrand sitzen zwei freundliche junge Männer mit einem großen Vorrat an Alkohol am Lagerfeuer. Am Ende landen wir auf dem Zeltplatz am nördlichen Stadtrand. C. marschiert in die Fischräucherei nebenan und es wird noch ein fröhlicher Abend.

3. Nexø nach Rø Plantage

Die längste Etappe. Wir beschließen, dass Starving kein gutes Konzept für einen Urlaub ist. Ab jetzt essen wir auch mittags etwas, angefangen bei einem allerliebsten Imbiss am Ortseingang von Svaneke. Kaum zu glauben, wie langsam man mit fünf Leuten in so einer Holzhütte arbeiten kann. Die Raumschiffe auf diesem Planeten fliegen weit unter Lichtgeschwindigkeit. Wir adaptieren noch. Danach folgt der heftigste Anstieg der Fahrt, als die Küstenstraße nicht mehr Küstenstraße bleibt, sondern einen großen Bogen ins Inselinnere macht. Baden und Stadtbesichtigung in Gudhjem — rückblickend bin ich erstaunt, was wir an diesem Tag alles geschafft haben. Gudhjem wird gemeinsam als der schönste Ort der Insel bestimmt. Trotzdem bleiben wir nicht hier. Der Shelter am Meer ist mit fröhlichen argentinischen Jungs belegt, also fahren wir noch einmal hoch in den Wald in der Mitte, wo wir schließlich auf einer Lichtung in Rø Plantage einen Übernachtungsplatz finden, auf dem wir mit den Sternen und einem Trockenklo ganz allein sind. Es ist wunderbar.

4. Rø Plantage nach Sandvig

Am vierten Tag kommt die Wärme. Der Rest des Weges entlang der Nordküste ist zum Glück nicht mehr weit. Wir haben genug Zeit, um die Treppen bei den Helligdomsklipperne hinabzusteigen, und A. springt dort sogar ins Wasser. Am Nachmittag machen wir Pause in Tejn und ich schlafe im Schatten der Hafenmauer ein. Trotzdem kommen wir rechtzeitig auf dem Zeltplatz in Sandvig an, um zu baden, zu kochen und (endlich einmal ohne Gepäck) zum kleinen Leuchtturm an der Nordwestspitze der Insel zu fahren. Wir stehen an der Westküste und schauen der Sonne dabei zu, wie sie hinter dem Meer untergeht. Aus der Ferne trägt der Wind Partymusik herüber. Als es Nacht wird, hängt ein riesiger gelber Mond über dem Platz und scheint hinunter auf den Strand und die Hotels dahinter. Als es Mitternacht wird, fahre ich mit dem Fahrrad los, immer der Musik entgegen, und komme nach zwei Kilometern am Festzelt der örtlichen Abiturfeier an. Ich frage nach, wie lange es noch dauern wird, und mit diesem Wissen kann ich endlich einschlafen.

5. Sandvig nach Rønne

Am fünften Tag kommt die Hitze. Wenn ich nach einem Rat gefragt werde: Schaut euch die Festungsruine besser an einem bewölkten Tag an. In Hasle machen wir an der Fischräucherei zwei Stunden Pause, ab und zu gehe ich auf die Toilette und schütte mir Wasser über den Kopf. Es ist schon spät, als wir in Rønne auf dem Zeltplatz ankommen. Wir kochen nicht, sondern fahren in die Stadt und zum Glück überredet uns C., uns an einen Tisch vor der Tapas-Bar zu setzen und das große Menü zu bestellen. Mit jedem Gang wird die Luft angenehmer. Im Club auf der anderen Straßenseite beginnt die nächste Abiturfeier. Auf dem Radarbild der Wetter-App nähert sich langsam eine Gewitterfront. Als wir im Zelt liegen, bricht das Unwetter los. Diesen Abend werde ich mir lange merken. Frühmorgens plündern wir die Bäckerei und fahren hinunter zum Hafen, wo das Schiff mit dem Schlafsaal schon auf uns wartet.