Autor: Stefan

Öresundsbron, Ostern 2024

Bornholm, Brüder

In diesem Sommer habe ich zwei Dinge zum ersten Mal in meinem Leben gemacht: mit dem Fahrrad um Bornholm fahren, Urlaub mit meinen Brüdern. Wir hatten ursprünglich ein etwas anspruchsvolleres Ziel, sind dann aber aus verschiedenen Gründen in der Nähe geblieben. Es war eine schöne Reise.

1. Rønne nach Pedersker

Die Fähre nach Bornholm hat eine sehr hilfreiche Einrichtung: Es gibt einen Schlafsaal auf dem Schiff. So sind wir einigermaßen ausgeschlafen, als wir am Nachmittag in Rønne ankommen. Als wir uns über die Landkarte beugen, ist für mich klar, dass wir die Insel im Uhrzeigersinn umrunden würden. Erst in Richtung Norden, in die Berge und Städte, dann ins Flachland. Ich halte das für eine Art Naturgesetz, aber C. kennt den Wetterbericht und meint, dass wir den starken Westwind doch als Zeichen nehmen sollten, zunächst mit natürlicher Unterstützung nach Südosten zu fahren. Einfach mal treiben lassen. Das tun wir dann auch. Am Flughafen vor der Stadt ist gerade ein Luftfahrzeug in Bewegung, C. kann uns den ganzen Vorgang genau erklären. Wir bleiben am Boden und kommen auf diese Weise bis nach Pedersker, wo A.s Wunsch in Erfüllung geht, in einem Shelter im Wald zu übernachten. Ein Shelter ist eigentlich eine Holzhütte ohne Fenster und ohne Fassade. Akustisch ist das ungefähr so, als würde man versuchen, in einer riesigen Tuba einzuschlafen. Schwierig wird es, wenn auch die anderen Personen im Schlaf Geräusche machen. Eine Tuba ist kein Holzblasinstrument, ich weiß schon, aber es geht mir um den Vergleich.

2. Pedersker nach Nexø

Am Abend stellt C. mit Erstaunen fest, dass wir keine zehn Kilometer Luftlinie zurückgelegt haben. Bornholm ist wirklich nicht groß, normalerweise schafft er das an einem Tag. Andererseits wäre es dann keine Reise. Wir lassen uns Zeit, laden am Fahrradrastplatz in Sømarken die elektrischen Geräte auf, baden an der besten Badestelle der Insel und würden wahrscheinlich auch noch auf den Leuchtturm in Dueodde steigen, wenn der Leuchtturmwärter nicht um 14 Uhr Feierabend gemacht hätte. Nicht alle Teilnehmer mit Höhenangst sind darüber unglücklich. Im Hafen von Nexø ist der Tiefpunkt der Reise erreicht. Wir haben Hunger und eine ungewisse Bleibeperspektive. Beim Shelter am südlichen Stadtrand sitzen zwei freundliche junge Männer mit einem großen Vorrat an Alkohol am Lagerfeuer. Am Ende landen wir auf dem Zeltplatz am nördlichen Stadtrand. C. marschiert in die Fischräucherei nebenan und es wird noch ein fröhlicher Abend.

3. Nexø nach Rø Plantage

Die längste Etappe. Wir beschließen, dass Starving kein gutes Konzept für einen Urlaub ist. Ab jetzt essen wir auch mittags etwas, angefangen bei einem allerliebsten Imbiss am Ortseingang von Svaneke. Kaum zu glauben, wie langsam man mit fünf Leuten in so einer Holzhütte arbeiten kann. Die Raumschiffe auf diesem Planeten fliegen weit unter Lichtgeschwindigkeit. Wir adaptieren noch. Danach folgt der heftigste Anstieg der Fahrt, als die Küstenstraße nicht mehr Küstenstraße bleibt, sondern einen großen Bogen ins Inselinnere macht. Baden und Stadtbesichtigung in Gudhjem — rückblickend bin ich erstaunt, was wir an diesem Tag alles geschafft haben. Gudhjem wird gemeinsam als der schönste Ort der Insel bestimmt. Trotzdem bleiben wir nicht hier. Der Shelter am Meer ist mit fröhlichen argentinischen Jungs belegt, also fahren wir noch einmal hoch in den Wald in der Mitte, wo wir schließlich auf einer Lichtung in Rø Plantage einen Übernachtungsplatz finden, auf dem wir mit den Sternen und einem Trockenklo ganz allein sind. Es ist wunderbar.

4. Rø Plantage nach Sandvig

Am vierten Tag kommt die Wärme. Der Rest des Weges entlang der Nordküste ist zum Glück nicht mehr weit. Wir haben genug Zeit, um die Treppen bei den Helligdomsklipperne hinabzusteigen, und A. springt dort sogar ins Wasser. Am Nachmittag machen wir Pause in Tejn und ich schlafe im Schatten der Hafenmauer ein. Trotzdem kommen wir rechtzeitig auf dem Zeltplatz in Sandvig an, um zu baden, zu kochen und (endlich einmal ohne Gepäck) zum kleinen Leuchtturm an der Nordwestspitze der Insel zu fahren. Wir stehen an der Westküste und schauen der Sonne dabei zu, wie sie hinter dem Meer untergeht. Aus der Ferne trägt der Wind Partymusik herüber. Als es Nacht wird, hängt ein riesiger gelber Mond über dem Platz und scheint hinunter auf den Strand und die Hotels dahinter. Als es Mitternacht wird, fahre ich mit dem Fahrrad los, immer der Musik entgegen, und komme nach zwei Kilometern am Festzelt der örtlichen Abiturfeier an. Ich frage nach, wie lange es noch dauern wird, und mit diesem Wissen kann ich endlich einschlafen.

5. Sandvig nach Rønne

Am fünften Tag kommt die Hitze. Wenn ich nach einem Rat gefragt werde: Schaut euch die Festungsruine besser an einem bewölkten Tag an. In Hasle machen wir an der Fischräucherei zwei Stunden Pause, ab und zu gehe ich auf die Toilette und schütte mir Wasser über den Kopf. Es ist schon spät, als wir in Rønne auf dem Zeltplatz ankommen. Wir kochen nicht, sondern fahren in die Stadt und zum Glück überredet uns C., uns an einen Tisch vor der Tapas-Bar zu setzen und das große Menü zu bestellen. Mit jedem Gang wird die Luft angenehmer. Im Club auf der anderen Straßenseite beginnt die nächste Abiturfeier. Auf dem Radarbild der Wetter-App nähert sich langsam eine Gewitterfront. Als wir im Zelt liegen, bricht das Unwetter los. Diesen Abend werde ich mir lange merken. Frühmorgens plündern wir die Bäckerei und fahren hinunter zum Hafen, wo das Schiff mit dem Schlafsaal schon auf uns wartet.

Jenny Erpenbeck. Kairos. Ich kann verstehen, warum Jenny Erpenbeck für dieses Buch den Booker-Preis bekommen hat, sie kann eine Geschichte aufschreiben, das gefällt mir. Aber das Buch ist nicht nur die quälende Geschichte einer schrecklichen Paarbeziehung, sondern auch eine unfassbare Rechtfertigung der DDR, Erzählperspektive hin oder her. Die beiden Protagonisten sind Teil der privilegierten Kulturelite der DDR, mit Reisegenehmigungen und voller Verachtung für den Westen und die einfachen Leute. Die bleiernen letzten Jahre der DDR, die überdeutlich an ihr Ende gekommen war, bilden den Hintergrund der Handlung, sie werden von den Romanfiguren voller Selbstmitleid, mit schwülstigem Pathos und unter Verklärung der sozialistischen Gewaltgeschichte geschildert. Das ist kaum auszuhalten. Nebenbei ist das Buch schlecht recherchiert: Es ist immer ein schlechtes Zeichen, wenn jemand nicht nachgelesen hat, wie die Schachfiguren eigentlich heißen, außerdem sollte man wissen, welche Wahl im Mai 1989 gefälscht wurde, wenn man darüber schreibt. 35 Jahre nach ihrem Untergang ist die DDR, die ein ethnisch homogener, fremdenfeindlicher, antisemitischer und antiamerikanischer Staat war, wieder zu einem positiven Bezugspunkt geworden. Wenn man wissen will, warum Putins Russland in Ostdeutschland so gefeiert wird, dieses Buch bildet die aktuelle Stimmung gut ab.