Die kurze Spanne

Über The Great Span gelesen: direkte Verbindungen durch einzelne Menschen über große Zeitspannen hinweg. Menschen wie der 96-jährige Samuel Seymour, der 1956 in einer Fernsehshow erzählte, wie er als kleines Kind Zeuge des Attentats auf Abraham Lincoln wurde. Oder der Lehrer, der Scott Hühnercrisp erzählte, dass er als kleiner Junge einen alten Mann getroffen hatte, der wiederum als Kind bei Johannes Brahms zum Abendessen eingeladen gewesen war.

Mein Moment fand statt, als ich mit H. und H. das Kraftwerk in Peenemünde besuchte und am Ende der Ausstellung auf einer Tafel las, dass das Kraftwerk noch bis Ende März 1990 Strom produziert hatte. Die Fabrik, die eigentlich die Energie für den Bau der Wunderwaffe hatte liefern sollen, sorgte also am Ende für den Betrieb des kleinen Schwarzweißfernsehers, mit dessen Hilfe ich mich in den Nächten in der Telefonzentrale der 1. Flottille wachhielt. Schon damals war das Kraftwerk eine Mischung aus Bauruine und Museum, es war ein Wunder, dass das Ding überhaupt so lange in Gang gehalten werden konnte. Ich wusste nichts über Peenemünde, merkte ich, ich fuhr monatelang am Gerippe der Sauerstofffabrik vorbei, wenn es zurück in die Kaserne ging, jenseits der Mauer sah ich auf das alte Kraftwerk, im Wald standen die Flieger, alles war voller Geschichte, aber ich wusste nichts davon und es spielte keine Rolle.

Aber das ist nicht The Great Span. Es ist das Gegenteil. Ich bin jetzt weiter weg von 1990, als ich bei meiner Geburt vom Zweiten Weltkrieg entfernt war. Meine Mutter wurde im Krieg geboren, mein Vater kurz danach. Ich dachte immer, das sei alles sehr lange her, ein Fall für die Geschichtsbücher, für alte Filme, abgeschlossen, vorbei, dabei war seitdem kaum Zeit vergangen.

Kommentare

Heiko sagt:

Gab es eigentlich ein Grund, warum du deine Wehrdienst so „nahe“ an zu Hause machen konntest? Ich dachte immer, dass darauf geachtet wurde, das ordentlich Kilometer dazwischen liegen.

Stefan sagt:

Ich glaube, dass sich die Politik da zum Ende hin geändert hat, die meisten aus meiner Klasse sind in der Nähe geblieben. Vielleicht wurden aber auch nur Abiturienten bevorzugt behandelt, auf meiner Stube waren auch Leute aus Dessau und Thüringen, für die war es eine Tagesreise. Die Züge waren ja am Wochenende voll mit betrunkenen Soldaten, eventuell war auch das ein Grund, den Wehrdienst humaner zu machen.

albatros sagt:

Es ist noch nicht lange her, dass mir wirklich bewusst wurde, dass das Ende des Zweiten Weltkriegs bei meiner Geburt erst 24 Jahre zurücklag. Das ist eine Zeitspanne, die ich in ihrer Kürze erst heute wirklich einschätzen kann.

alex sagt:

Das geht mir ganz genauso. Bei mir war der Abstand zwischen Kriegsende und Geburt gerade mal 18 Jahre. Wenn bei uns in der Familie vom Krieg gesprochen wurde, was übrigens recht oft der Fall war, kam es mir auch immer so vor als ginge es um lange vergangene Zeiten. Aber eigentlich war es vorgestern gewesen.

Roswitha sagt:

ich finde es bemerkenswert, dass das gefühl für zeitabläufe erst jetzt im alter bei mir kommt. nur 5 jahre nach kriegsende wurde ich geboren, in der kindheit gab es noch bombentrichter und reste von ruinen. thematisiert wurde das nicht, es wurde in der familie krampfhaft nach vorne geblickt. und in der schule begannen wir geschichte in der steinzeit, zehn jahre schulzeit brachten mich nur ganz kurz mal ins 20.Jh. die lehrer, ehemalige soldaten, hatten kein interesse an aufarbeitung. schon die wendejahre scheinen heute weit weg, nur 30 jahre! und unsere enkel haben wieder diverse fachkenntnisse, die man nachlesen könnte, aber der geschichtsunterricht ist immer noch meist mangelhaft.

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