Monat: August 2020

Nach Lauterbach

Vor Stahlbrode stehen schon Kraniche auf den Feldern.

Auf der Glewitzer Fähre ist Maskenpflicht, öffentlicher Nahverkehr, keine Ausnahmen. Die Leute stehen unschlüssig auf dem offenen Deck und schauen aufs Wasser. Dann gehen sie in ihre Autos und nehmen die Masken wieder ab. Autos sind sicher.

Wir haben keinerlei Schwierigkeiten, in Zudar, Groß Schoritz und Silmenitz die üblichen Abstandsregeln einzuhalten. Kein Mensch zu sehen. Selbst die Kühe vom letzten Jahr sind nicht mehr da.

Gegen Mittag kommt endlich etwas Wind auf. Er weht die feuchte warme Brühe weg, die sich auf die Felder gelegt hat. Die Sonne ist hinter den Wolken, aber sie scheint trotzdem.

Der Bodden in Neuendorf ist kühl, ohne Quallen und keinen halben Meter tief. Wenn ich mich hinlege, bin ich ganz unter Wasser.

Lauterbach ist mehrdeutig: Der Ort, nicht der Politiker. Der Bahnsteig hat Meerblick und ist voller Menschen und für einen Moment frage ich mich, ob wir mit unseren Fahrrädern alle Platz in dem kleinen Zug finden werden, aber dann wollen die anderen nur mit der Kleinbahn fahren, die auch hier beginnt. Die Urlauber haben mehr Zeit als wir.

Charles Bukowski: Deutsch

Es war nicht leicht, der deutsche Junge zu sein,
in den Zwanzigern in Los Angeles.
Viele mochten keine Deutschen,
das kam noch vom Ersten Weltkrieg.
Die anderen Jungs trieben mich durch die Nachbarschaft und
schrien „Hieneie! Hieneie! Hienie!“
Sie kriegten mich nie.
Ich war wie eine Katze.
Ich kannte alle Wege durch die Gassen und Büsche.
Ich kletterte wie der Blitz über einen mannshohen Zaun und war auf den
Hinterhof verschwunden und um die Ecke
und auf das Garagendach oder in ein anderes Versteck.
Außerdem, sie wollten mich nicht wirklich kriegen.
Sie hatten Angst, ich könnte sie abstechen
oder ihnen die Augen auskratzen.

Das ging ungefähr 18 Monate lang,
dann schien es auf einmal aufzuhören.
Sie akzeptierten mich, mehr oder weniger (aber niemals ganz),
für mich war es in Ordnung so.
Diese Hurensöhne waren Amerikaner,
Sie waren hier geboren, wie ihre Eltern.
Sie hießen Jones oder Sullivan oder
Baker.
Sie waren blass und meistens fett mit
triefenden Nasen und dicken Gürtelschnallen.
Ich beschloss, niemals ein Amerikaner zu werden.
Mein Held war Manfred von Richthofen, der Baron,
das deutsche Fliegerass;
er hatte 80 von ihren besten Leuten abgeschossen
und dagegen konnten sie jetzt nichts
mehr machen.
Ihre Eltern mochten meine Eltern nicht
(ich auch nicht) und
ich beschloss, wenn ich groß sein würde, an so einem Ort
wie Island zu leben,
niemals irgendjemandem die Tür zu öffnen und von meinem
Glück zu zehren, mit einer schönen Frau und einem Haufen wilder
Tiere:
Was mehr und weniger das ist, was dann
passierte.

#169

Als er einmal ohne anzuklopfen nachbarschaftlich in ihr Zimmer gekommen war (damals wohnten sie und ihr Mann im ersten Stock des gemeinsamen Hauses, zusammen mit allen Stationsangestellten, erst später zogen sie in ein eigenes Ziegelhaus in der Nähe) und sie in einer winzigen flachen Schüssel stehen sah, in einer Hand einen Krug, mit der anderen hielt sie ihre Haare hoch, und die hereinscheinende Sonne sie durchleuchtete und er ganz deutlich ihr vogelgleich flatterndes Herz erkannte, die dunstig-massive Leber, die durchsichtige silberne Glocke der Harnblase, die hellblauen Knochen, die im rosa Gelee ihres Leibes schwammen — „Wanja?!“ –, da hatte er begriffen, dass er fliehen musste. Und war geflohen.

— Juri Nuida: Nulluhrzug