Klagefall

Kurzmitteilungen

Seit einem Monat kann ich wieder richtig schlafen. Die Burschenschaftler sind verschwunden, der Club um die Ecke ist geschlossen, niemand zieht mehr nachts schreiend durch die Straße. Morgens werde ich nicht mehr von Autos geweckt, sondern von den Vögeln. Kann meinetwegen so bleiben.

Keine Termine mehr, keine Verabredungen, keine Arztbesuche, keine Physiotherapie, nicht mehr ins Theater, nicht mehr ins Kino, nicht mehr ins Restaurant, keine Besuche, kein Zug, den wir kriegen müssen, gar nichts mehr. Wenn ich meine Arbeit geschafft habe, fahre ich für eine Stunde ins Büro und hole mir neue. Papier ist schwer, das nächste Mal nehme ich den Fahrradanhänger mit und packe die volle Aktentasche da rein.

Aber ich vermisse die Gespräche. Wenn ich jemanden auf der Straße treffe, läuft immer diese Unruhe mit: Stehen wir weit genug auseinander? Sind die 15 Minuten schon um?

Lange wird das nicht mehr halten. Diese merkwürdige Mischung aus Linken, Rechten und Wirtschaftsliberalen, die Grundrechte! und Verhältnismäßigkeit! schreien und keine Ahnung haben, was das überhaupt ist. Dieser Möchtegern-Kanzler, dem seine Berater gesagt haben, dass er vorwegmarschieren soll, mit seinem Watschelgang und jetzt hat er einen Professor eingekauft und eine PR-Agentur macht alles instagrammable.

Vielleicht sind die Professoren in den Talkshows bloß gecastet? Ich meine, woher kommen die plötzlich alle? Hat die vorher schon mal jemand gesehen?

Heute die große Fahrradrunde. Die Kondition ist sonstwo.

Ich bin jetzt Candidate Master, so ähnlich werde ich mich fühlen, wenn ich draußen mit einer Maske herumlaufe. Alle gucken komisch.

Den ganzen Sonnabend an einem Text geschrieben, den ein Kollege heute mit freundlichen Worten in den Papierkorb geworfen hat. Die nächsten vier Tage den Text eines anderen Kollegen überarbeiten. Es wird Zeit, dass ich wieder Texte für mich schreibe.

Ich bin so dankbar, dass ihr noch eure Blogs habt. Hoffentlich macht später niemand Bücher daraus. Blogs sind keine Literatur, zum Glück. Blogs sind etwas anderes.

Darüber nachgedacht, ob ich auch noch einen Corona-Text schreiben sollte. Mein Thema wäre Vorsorge. Mir gefällt das Wort. Den Gedanken wieder verworfen. Ich meine, wenn es etwas zur Genüge gibt, dann sind es Essays über das Virus.

Am Sonntag haben wir auf Skype zusammen ein Geburtstagslied gesungen.

Heute war ein warmer Tag. Die Sonne auf mein Herz scheinen lassen. Am Nachmittag stand ein Vollmond über dem Dach des Nachbarn.

Ich würde gern meine Eltern sehen. Wahrscheinlich wäre jetzt die beste Zeit dafür, bevor alle wieder rausgelassen werden. Noch sind die Züge leer.

Mein Zeitungsladen hat zugemacht. Es war die einzige Bahnhofsbuchhandlung in Greifswald, jeden Tag geöffnet, außer Weihnachten vielleicht. Sie haben die Jalousien heruntergelassen und draußen einen Zettel angeklebt. Weiß, DIN A4, Querformat, wie sie jetzt an vielen Läden hängen.

Die Fischfrau auf dem Markt darf keine Fischbrötchen mehr verkaufen. Die Fischläden in der Stadt dürfen es weiterhin, obwohl das enge, schlecht belüftete Ladengeschäfte sind. Der Fischwagen darf es nicht mehr, warum auch immer. Die Fischfrau hatte einen Brief vom Amt dabei, sie habe nur ein Fahrgeschäft, hieß es. Sie verliert damit 80 Prozent des Umsatzes. Lange wird das nicht gutgehen.

Vor den Marktständen sind mit weißer Farbe Markierungen auf das Pflaster gemalt. Die Leute halten beim Anstehen Abstand, sehr diszipliniert, sehr ernst.

Dhani Harrison hat The Inner Light neu aufgenommen. Er sieht aus wie sein Vater und er singt so wie er. Bob Dylan hat einen neuen Song veröffentlicht, 17 Minuten lang, Murder Most Foul. Was für Zeiten.

Gestern kamen zwei neue Platten an: Gone Troppo von George Harrison und Give More Love von Ringo Starr. Ich habe gerade keine Zeit für Schwermut.

In der leeren Fußgängerzone A. getroffen. Er ist ein Informationsjunkie, guckt alle Pressekonferenzen, hört alle Podcasts, das macht ihn fertig. Das kann man nicht lange durchhalten.

Selbstermächtigung: Was können wir eigentlich tun? Wir können den Kopf oben behalten und den Kopf einziehen, beides gleichzeitig.

Durch die halbe Stadt gefahren, um Zeitungen zu kaufen. Die Sonne sammelt schon Kraft für den Frühling.