Klagefall

Kurzmitteilungen

Als der Hagel kam, mit kalten, spitzen Körner, die auf meine Kopfhaut trommelten, als sich die Leute unter das Vordach des Discounters drängten, als mir auf dem Fahrrad der Nordwestwind entgegenkam und der voll beladene Anhänger an der Kupplung zog, als meine Klamotten langsam nass wurden, da dachte ich: Scheiß auf das Wetter, ich habe an diesem Samstagvormittag den Baumarkt überlebt, die Schlange vor den Einkaufswagen, den Einweiser am Eingang, die verdammte Maske und die beschlagenen Brillengläser, die Schlange an der Kasse, den Einweiser am Ausgang, der da stand wie ein Heiliger, wie ein Verkehrspolizist mitten auf der Kreuzung und der die Menschenströme mit ein paar Armbewegungen teilte, ich habe die Farbe gefunden, die ich brauchte, und das Vogelfutter in der Gartenabteilung ganz am Ende, mich hat niemand über den Haufen gerannt und die ganze Zeit habe ich weitergeatmet und keine Panikattacke gekriegt in diesem Baumarkt am Samstagvormittag, ich bin über den ganzen Parkplatz von diesem hässlichen Einkaufszentrum gefahren, ohne irgendwo mit dem Fahrradanhänger hängenzubleiben, da ist der Hagel ja wohl das kleinste Problem und eigentlich ist es doch ganz schön so, allein und draußen an der Luft.

Alle Reisen in das Gebiet des Landes Mecklenburg-Vorpommern sind untersagt gilt für uns nicht, wir sind schon da.

Der Wind hat sich gelegt und die Sonne scheint so sehr, dass man nach einem Schattenplatz suchen möchte. Ich habe Usedom noch nie so leer gesehen. Nicht mal an einem verregneten Novembermorgen ist Zinnowitz so leer wie heute. Die Geschäfte sind wieder geöffnet, die Inhaber stehen davor und warten vergeblich auf Kunden. Die Einheimischen brauchen keine Outdoorjacken.

Die Ferienanlagen stehen leer, auf den Campingplätzen sind nur ein paar heimliche Besucher. Vor einem Ferienhaus in Karlshagen steht ein Auto mit Wolfsburger Kennzeichen. In der Windschutzscheibe liegt ein großer Zettel: Der Halter des Fahrzeugs mit dem amtlichen Kennzeichen WOB … hat seinen Erstwohnsitz gemäß § 4 Absatz 2 SARS-CoV-2-Bekämpfungsverordnung im Landkreis Vorpommern-Greifswald. Datum, Unterschrift, Stempel.

Je weiter wir nach Norden kommen, desto seltener treffen wir andere Fahrradfahrer. Alle grüßen sich. Wir sind alle Teilnehmer einer großen Expedition. Wir sind unter uns. Das hat es noch nie gegeben.

Es muss mal wieder regnen. Die Insel ist trocken wie ein Schwamm. Sie wird alles aufsaugen, den Regen und die Touristen. Wahrscheinlich werden die Touristen zuerst kommen.

Jede Reise muss ein Ziel haben. Wir sitzen am Hafenbecken von Peenemünde und essen die Sachen, die wir mitgebracht haben.

Auf der Rückfahrt steht hinter Buddenhagen ein Sprung Rehe direkt am Bahngleis. Über ein Dutzend Tiere, sie sind ganz nahe herangekommen und gucken neugierig in unseren Wagen, der langsam beschleunigt.

Die Arbeitskollegin, die von ihrem Schwiegervater erzählt. Sie wohnen auf dem Dorf, zusammen in einem großen Haus, drei Generationen unter einem Dach.

Sie arbeitet von frühmorgens bis mittags, dann fährt sie eine Stunde nach lang nach Hause, um ihre Schwiegermutter abzulösen, die jetzt ihren Schwiegervater und den fünfjährigen Enkel zugleich betreut. Ihr Mann muss ganztags arbeiten und nimmt nach und nach seinen Jahresurlaub, um die Situation beherrschbar zu halten. Da nicht beide Eltern systemrelevant sind, gibt es keine Notbetreuung im Kindergarten.

Die Schwiegereltern sind beide über 80, sie nehmen die Situation sehr ernst. Keine Besuche, kein Einkaufen, sie bleiben auf dem Grundstück. Sie sehen auch ihre anderen beiden Söhne nicht. Der Schwiegervater sitzt auf seinem Stuhl im Garten und stellt sich vor, dass er seine Söhne nicht an der Haustür klingeln hört, anders kann er es sich nicht erklären, dass sie ihn nicht besuchen, die wären doch schon längst mal vorbeigekommen.

Falls ihr Helden sucht, hier sind welche.