Schlagwort: Literatur

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Ein paar kurze und neunmalkluge Anmerkungen zu Ronsens/Foer/Schach

Schach in der Literatur ist ein trübes Kapitel und ich möchte gar nicht wissen, wie es aussieht, wenn es um Fachsprache bei einem Thema geht, das noch abseitiger ist. Immerhin nichts gegen Übersetzer/innen: auch originalsprachliche literarische Texte sind häufig nicht besser. Aber dass game hier eben nicht Spiel ist, sondern Partie (vgl. die Schachpartie oder eine Partie Schach spielen; das Schachspiel ist dagegen ein Gattungsbegriff), finde ich nicht gerade fernliegend. Und Patt ist nicht triste Zugwiederholung, sondern eine Situation, in der man trotz Zugrecht keine Figur mehr bewegen kann – und die bei Dame anders als beim westlichen Schach Partieverlust bedeutet, was wiederum vollkommen sinnwidrig wäre, wenn beide Seiten zuvor optimal spielen, was ja angeblich ganz leicht sein soll.

Geschäftsidee: Ein Büro aufmachen, das Schachstellen in Manuskripten auf korrekte Terminologie überprüft und damit reich werden. Lass ich mir gleich mal patentieren.

PS: Was ist eigentlich passiert, dass Dame inzwischen so in der Versenkung verschwunden ist? Als ich Kind war, war das noch ein beliebtes Brettspiel. Aber wahrscheinlich verschwinden Brettspiele ohnehin.

Heda! Waffen, Waffen!

Oskar Kanehl wird am 5. Oktober 1888 in Berlin geboren. 1908 macht er Abitur und studiert sieben Semester vor allem Philosophie und Deutsch an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin. Seine Dissertationsschrift wird in Würzburg wegen kirchlichen Anstoßes abgelehnt.

Deshalb immatrikuliert sich Kanehl 1911 am Germanistischen Institut der Königlichen Universität Greifswald. Er promoviert hier am 9. November 1912 cum laude. Seine Dissertation erscheint ein Jahr später als Buch: Der junge Goethe im Urteil des jungen Deutschland. Die Mitarbeit an den Greifswalder Hochschulblättern beendet Oskar Kanehl, die Blätter sind politisch neutral, er ist es nicht. Kanehl zieht vor die Stadt ins Fischerdorf Wieck und bekommt Lust, eine Bombe ins schwarze Ketzernest Greifswald zu werfen. Eine Zeitschrift.

Am 16. Juli 1913 erscheint die erste Nummer des Wiecker Boten. Bis zum Verbot im Sommer 1914 wegen Gotteslästerung und Verbreitung unzüchtiger Schriften erscheinen elf weitere. Das Blatt findet Beachtung: Die lokale Presse schäumt, die Universität kündigt der Druckerei des Wiecker Boten alle Aufträge, Kanehl erhält von Greifswalder Korpsstudenten mehrere Aufforderungen zum Duell. Alles endet erst dann, als Oskar Kanehl 1914 zum Kriegsdienst einberufen wird.

Der Titel der Zeitschrift soll Programm sein: Weg vom bürgerlichen Leben, hin zum Meer, zu den Fischern. Der Wiecker Bote steht außerhalb der Stadtmauern, vor den Toren. Er wird Teil der Unzahl expressionistischer Zeitschriften dieser Jahre, beeinflusst vor allem von Franz Pfemferts Die Aktion. Das Blatt bringt Gedichte, Aufsätze, Rezensionen und Beiträge zum Hochschulleben in Deutschland. Dem Greifswalder Philosophen Johannes Rehmke wird ein Sonderheft gewidmet. Gottfried Benn, Paul Boldt und Georg Heym werden besprochen, Kanehls Verbindungen bringen Texte von Albert Ehrenstein, Max Hermann-Neisse und Else Lasker-Schüler nach Pommern. Aus dem Autorenkreis der Studenten sind hervorzuheben: der Ostfriese Hermann Plagge, der den Krieg überlebte und 1918 beim Baden ertrank und der Germanist Hermann Joelsohn (später Hermann Borchardt), der 1930 mit Bertolt Brecht arbeitete und das Konzentrationslager überstand.

In Erfurt erscheint 1920 Steh auf, Prolet!, eine Sammlung politischer Gedichte. Die Kriegsgedichte Kanehls kommen erst 1922 unter dem Titel Die Schande. Gedichte eines dienstpflichtigen Soldaten aus der Mordsaison 1914-18 im Verlag der Aktion heraus – der Autor blieb als einer von wenigen Dichtern des expressionistischen Jahrzehnts ein Gefährte von Franz Pfemfert. Kanehl engagiert sich vorübergehend in der KPD, enttäuscht über kommunistische Parteidisziplin und Bonzentum danach in der Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (mit Franz Jung), der rätekommunistischen Allgemeinen Arbeiter-Union und schließlich im Spartakusbund Nr. 2. 1928 veröffentlicht er in dessen Verlag seinen letzten Gedichtband Straße frei. Sein Brot verdient Kanehl als Dramaturg und Regisseur an den Berliner Theatern von Fritz und Alfred Rotter. Am 28. Mai 1929 stürzt er aus dem Fenster seiner Wohnung in der Berliner Kantstraße.

Oskar Kanehl ist heute vergessen. Niemand singt mehr sein Wir sind die erste Reihe. Das deutsche Verlagswesen hat ihn nicht mehr zur Kenntnis genommen.

(1995/2014)