Schlagwort: Irak

Noch eine Barbiergeschichte

– Wir kennen uns doch, sagt mein Friseur, als er gerade die Reste meine Kopfhaars auf sechs Millimeter heruntermäht. Ich kenne sein Gesicht, aber in einer kleinen Stadt kennt man die meisten Gesichter und die markanten sowieso.
– Vom Gericht, sagt er. Ich war bei Ihnen.

Der Chef vom Friseurstuhl nebenan unterbricht die Arbeit an einem zugewachsenen Sidecut.

– Du bist am Gericht?
– Ja.

Pause. Dann ruft er durch den ganzen Laden:

– Kriegt er Abschiebung? Alle lachen, ich auch.
– Nene, das ist lange her, sage ich. Du kommst aus dem Irak?
– Ja, sagt mein Friseur.
– Araber oder Kurde?
– Araber aus Bagdad.
– Schöne Stadt, sage ich. Wie ist es denn ausgegangen?
– Negativ. Der Dolmetscher hat falsch übersetzt.
– Das tut mir leid.
– Macht nichts.
– Aber du konntest trotzdem bleiben?
– Ja, wegen meiner Frau. Ich habe jetzt Aufenthaltserlaubnis auf Dauer.
– Dann ist ja alles gut.

Der Friseur holt das Rasiermesser vor und schabt meine Stirnecken glatt. Ich verhalte mich ganz ruhig, bis er damit fertig ist. Ob er mal wieder zuhause gewesen sei. Ja, langsam werde es wieder besser, aber vor drei, vier Jahren sei es schlimm gewesen. Ich hatte gehofft, mir Bagdad eines Tages selbst ansehen zu können, aber er rät mir ab. Für Ausländer sei es noch immer gefährlich. Aber viele Iraker seien inzwischen zurückgekehrt, so um die zwanzig von den dreißig, die sie hier mal gewesen seien. Er zählt nur die Männer, glaube ich.

Wir wenden uns den Haaren in den Ohren und der Nase zu, dann sind wir fertig. Ich stehe auf und bezahle, wir schütteln uns die Hände.

Bagdad

Als der dritte Golfkrieg vorbei war, hängte der Mann ein neues Schild an seinen Laden: Bagdad Döner.

Auf der Bank vor dem Geschäft sitzt sein Vater, das Gesicht in der Sonne, in den Händen hält er ein Glas mit schwarzem Tee, die Filzmütze liegt auf dem Tisch. Er blickt auf die Straße, ganz still, auf die Systembäckerei gegenüber, auf die vorbeilaufenden Menschen, auf die hungrigen Tauben auf dem Kopfsteinpflaster, fast so, als ob hier Al Mansour wäre und nicht die Fußgängerzone einer deutschen Kleinstadt, die einmal die Straße der Freundschaft war, als wir noch Ingenieure und Bauarbeiter nach Falluja schickten, um Fabriken zu bauen, Düngemittel für den Sozialismus von Baath.

Ich denke an die vielen irakischen Geschichten, die ich gehört habe, an den sunnitischen Hochzeitsänger, die yezidische Familie aus den Bergen bei Mosul, die traurigen Schiiten aus dem Süden, die Turkmenen aus Kirkuk, die so aufgeregt waren, die Assyrer mit ihrem zerstörten Alkoholgeschäft, den Mann von den Fedajin-Saddam, den kurdischen Jungen, der seine Braut verloren hatte, auf der Flucht vor der Blutrache, den Araber, den Evangelikale in einem Pool getauft hatten, an die Abenteurer, die Verzweifelten, die Peschmerga, die Märtyrer, die Staatenlosen, die Unklaren, an die Brandnarben, die Tränen, das Bitten, das Flehen, die Drohungen, an den Mann, der ohnmächtig geworden war vor Durst, an die Ölfelder, die Wüste nach Jordanien, die trockengelegten Sümpfe des Euphrat, das Kriegerdenkmal am Schatt al-Arab, an all die Geschichten, die erfundenen Geschichten, die wahren Geschichten, die ausgeschmückten Geschichten, die guten Geschichten, die schlechten Geschichten, die protokollierten Geschichten, laut diktiert, zurückübersetzt und genehmigt, eingefangen in ein paar Obersätze, rechtsmittelfest formuliert, an all die Fähren, Flugzeuge, Container, Ladeflächen, Toyota Pickups, die durchwateten Flüsse, das Gebirge an der Grenze inmitten von Kurdistan, die Schlepper, die vielen Dollars, den verkauften Familienschmuck, die Verwandten in Europa, an die verlorenen Pässe, die selbstgemachten Ausweise auf billigem Papier mit den verwischten Stempeln, die Passersatzpapiere mit räumlicher Beschränkung, den Einundfünfzig und die Arztberichte für den Dreiundfünfzig, wenn es für das kleine Asyl nicht gereicht hatte, an die Sachleistungen, die Gutscheine, das Taschengeld und das Flüchtlingsheim im Nirgendwo, die Gemeinschaftsunterkunft, an die Geduldeten, die Untergetauchten, die nicht mehr zu erreichen waren, weg, weiter auf dem Weg.

Der Tourette-Mann, der den ganzen Tag lang durch die Stadt läuft, setzt sich zu dem Vater auf die Bank. Sie unterhalten sich. Ich höre nicht hin.