Schlagwort: Großeltern

Alte Heimat

Der Weg nach Barth führt über Velgast. Früher ging man in Velgast unter Aufsicht des Schaffners über die Gleise, wenn man umsteigen musste. Jetzt gibt es in Velgast keinen Schaffner mehr, aber eine Notrufsäule und einen tiefen, feuchten Tunnel, durch den wir die Fahrräder tragen. Auf der anderen Seite wartet der Triebwagen nach Barth. Hier fing die Darßbahn an.

Der Fahrradweg von Barth bis Bresewitz geht an der alten Bahntrasse entlang. Die Meiningenbrücke liegt im Dornröschenschlaf.

Wir fahren nicht über Zingst, sondern biegen vor dem Freesenbruch westlich ab und nehmen die alte, holprige Plattenstraße über die trockengelegten Wiesen. Hier war ich noch nie. Auf dem Prerowstrom kriecht ein als Raddampfer verkleidetes Ausflugsschiff an uns vorbei. Vor uns fliegt ein Graureiher.

Kurz zum Strand hinunter, der Ostsee Guten Tag sagen. Die Sturmflut hat die halbe Düne mitgenommen.

An Prerow fahren wir nur vorbei, weiter nach Wieck. Über der Wiese ein Rotmilan. Der Fahrradweg ist auf einmal vollkommen leer. Im Haus von Oma Wieck sind jetzt Ferienwohnungen, wie überall. Wir gehen auf den Hof, die Scheune und die Baracke sind auch längst fort, alles ist überbaut. Eine Frau kommt auf uns zu und erkennt mich. Auf dem Dorf wissen alle, wer du bist. Am Haus meiner Eltern vorbei. Das Saunahäuschen steht noch da und auch die Hecke haben meine Eltern gepflanzt. Aber der Carport ist vergrößert worden, natürlich. Der Sandweg zum Friedhof im Wald wurde asphaltiert. Auf dem Parkplatz darf man maximal drei Stunden stehen, mit Parkuhr. Drei Stunden müssen reichen für’s Traurigsein, stimmt schon.

In den ewigen Darßwald, bis Peters Kreuz. Dort biegen wir nach Süden ab und fahren nach Born. Am Hafen sitzen wir im kühlen Bauch des Walfischhauses, draußen ist Sommer. Wir warten auf die MS Heidi, die uns zurück aufs Festland bringt. Auf dem Koppelstrom Schwäne. Auf einer Wiese am Waldrand sehen wir Hirsche, einer geht zum Ufer, um zu baden. In Bodstedt steigen wir aus, für die letzten Kilometer der Rundreise ist der Ostwind gegen uns.

In Barth haben wir eine Stunde Zeit, bis der Zug fährt. Wir fahren noch einmal die alten Wege. Am Haus der Werktätigen vorbei, über den Friedhofswall zu unserem alten Garten, der kaum noch zu erkennen ist, vielleicht die alte Tür in der Laube und das Pflaster auf dem Weg. Rechts hinter dem Rathaus der Sportplatz, auf der alten Aschenbahn liegt jetzt Tartan, aber die Pappeln stehen noch. Den Teergang entlang, der in Wirklichkeit aus Betonplatten besteht, zu unserem Haus in der Schillerstraße 10, zum Spielplatz mit der Wippe, meinen alten Schulweg, über den Wall schließlich zurück zum Bahnhof. Die Bäume sind gewachsen und die Straßen sind kleiner geworden. Ein Tourist sein und zugleich zu Hause.

Indianer spielen

Oma Wieck hieß Oma Wieck, weil sie in Wieck auf dem Darß wohnte. Sie hatte dort ein Haus, das in meiner Erinnerung unglaublich groß war. Es gab eine Veranda, einen winzigen Keller unter der Speisekammer, eine kleine dunkle Abstellkammer, die auf der Hälfte der Bodentreppe zur Seite abging, einen Schuppen und überhaupt eine Menge aufregender Plätze. Von Opa Wieck habe ich nur noch wenige Bilder im Kopf, auf den meisten sitzt er fröhlich in der Veranda. Im Wohnzimmer, meine Oma sagte Wohnstube dazu, war ein Fernseher und auf dem Hof eine riesige Antenne, damit man Westfernsehen gucken konnte. Fast alle im Dorf hatten so eine Antenne. Auf dem Fernseher stand ein Trafo, an dem man herumdrehen musste, wenn das Bild zu laufen anfing. Wir Kinder durften natürlich viel länger gucken als zuhause und meine Oma sagte immer »Nu lot de Jung doch kieken«, wenn meine Eltern meinten, dass es nun doch genug wäre, und ich guckte weiter.

Ich hatte als Kind eine Menge Indianer und Cowboys. Ich war natürlich immer für die Indianer. Ich weiß noch, wie ich einmal auf dem Fußboden vor dem Fernseher ein großes Fort aufgebaut hatte, das die Cowboys, unterstützt von ein paar NVA-Soldaten, gegen die anstürmenden Indianer verteidigen mussten. »Müssen die denn immer kämpfen?«, fragte meine Oma. »Die können doch auch mal zusammenkommen und ein Fest machen! Die müssen doch nicht immer kämpfen.« Irritiert räumte ich die Figuren weg. Erst viel später habe ich verstanden, was sie meinte. Und das ist eine andere Geschichte.

Ins Grüne

Oma und Opa Mühl Rosin hießen Oma und Opa Mühl Rosin, weil sie in Mühl Rosin wohnten. Obwohl ich als Kind eher »Mürosin« gesagt habe, glaube ich. Nach Mühl Rosin kommt man, wenn man von Güstrow aus die Straße weiterfährt, die am Ernst-Barlach-Haus am Inselsee vorbeiführt. Genau bis dahin wurde die Straße 1981 asphaltiert, weil Helmut Schmidt sich Barlach angucken wollte. Danach ging die Kopfsteinpflasterstraße weiter.

Meine Großeltern wohnten im Lehrerhaus direkt neben der großen Schule, die sie nach dem Krieg aufgebaut hatten und an der mein Opa Direktor war. Opa war eigentlich ein Gärtner. Er kümmerte sich um den riesigen Schulgarten und um den Garten neben dem Haus und konnte zu jeder Pflanze eine Geschichte erzählen. Im Winter heizte er morgens pünktlich um sechs die Kachelöfen, auch am Sonntag. Um halb zwölf hörte er die Landwirtschaftssendung vom Deutschlandfunk und um zwölf stellte Oma das Essen auf den Tisch. Oma kam aus besserem Hause, wie man so sagt. Sie spielte Klavier und gewann gegen mich beim Halma (und es gab nicht viele Brettspiele, bei denen ich verloren habe). Ich glaube, sie sprach sogar Französisch.

Wir trafen unsere Cousins in Mühl Rosin. Einmal bauten wir in den Winterferien einen Iglu. Man konnte darin ein Feuer machen, der Schnee taute an der Oberfläche und fror dann zu einer Eisschicht. Gleich hinter dem Haus war der Sportplatz mit den Pappeln und einem kleinen verstaubten Geräteschuppen am Ende, in dem es ein Pferd gab und Boxhandschuhe. Heute stehen da lauter Einfamilienhäuser. Auf der anderen Seite begann der Wald mit den Heidbergen, dem Bach und der Nebel. Meine Opa sagte immer, dass man keine Brille braucht, wenn man viel ins Weite und ins Grüne guckt. Das hat bei mir leider nicht funktioniert.