Schlagwort: Greifswald

Im Oktober

Das Einkaufszentrum ist inzwischen fast leer. Vor dem Seiteneingang sitzt eine Katze, als ich reingehe, schlüpft sie vor meinen Füßen durch die Glastür und läuft schnurstracks die Passage entlang. Im Laden sagen sie, die Katze gehöre zum Friseur, die hätten sie mitgebracht. Sie komme jeden Tag herein und sehe nach, obwohl der Friseur doch schon am Mittwoch zugemacht habe.

Auf dem Weg ins Haus, die Koalitionsverhandlungen laufen noch, der Stab im Vorzimmer ist unruhig. Der Fahrer unseres Dienstwagens besetzt die Überholspur der Autobahn, von hinten kann ich die Geschwindigkeit auf dem Head-up-Display der Frontscheibe ablesen. Das neue Sakko liegt neben mir, der schwarze Halbmantel im Kofferraum. Ich prüfe den Sitz der Krawatte im Rückspiegel. Nieselregen, die Scheibenwischer arbeiten zuverlässig. Hochnebel verschluckt die Rotoren des Windparks. Es sind keine Tiere zu sehen.

The Cure fingen mit Shake Dog Shake an und da war gleich klar, dass es gut werden würde.

Im Landesmuseum noch eine Fotoausstellung über das alte Greifswald, gleich am Anfang das Vorher-nachher-Spiel, also erst ein Schwarz-Weiß-Bild aus der Zeit vor dem Flächenabriss der Altstadt und daneben eine aktuelle Farbfotografie aus derselben Perspektive. Das läuft immer darauf hinaus, dass auf dem ersten Bild Menschen auf den Straßen ihrer langsam verfallenden Stadt zu sehen sind und auf dem zweiten parkende Autos. Es entsteht eine Mischung aus Wehmut und schlechter Laune.

In Vorpommern ist alles voller Himmel.

Mich an eine Fernsehkochshow in unserer Urlaubsbude erinnert und ein Gericht gekocht, das Zombie Brain heißt und auch so aussieht.

Die Pferdeweide am Ortsrand von Miltzow, das Reh auf dem Feld vor Reinberg, die Kraniche auf dem umgebrochenen Acker bei Stahlbrode, die wartende Katze am Feldrand hinter Poppelvitz, der Bussard über der Schoritzer Wiek, der Graureiher, der am Ryckufer landete, der Hirsch im Wald nach Steffenshagen.

Von München geträumt, das sich als dystopischer Ort erwies. Es war seltsam warm, auf den Plätzen zwischen all den gotischen Bauten lag zentimeterhoch eine Mischung aus Schnee und Asche, eine kleine Wasserflasche am Kiosk kostete siebzehn Euro. Schlafplätze waren einfach nicht zu bezahlen und der Mann im Kiosk gab mir den Rat, mir für die Nacht rechtzeitig einen Platz in einem U-Bahnhof zu suchen, das würden alle Touristen so machen. Mir fiel dann ein, dass A. jetzt in München wohnt. Sie war da und nahm für eine Übernachtung auf einer Biedermeiercouch mit durchgesessenen Sprungfedern hundert Euro, einen Freundschaftspreis. Vielleicht war es auch Prag, ich weiß es nicht mehr genau.

Auf dem Rückweg kam die Oktobersonne heraus, sie wärmte noch ein bisschen.

Büro

Mein Büro ist umgezogen, die Außenstelle aufgelöst. Es gibt keinen besseren Platz zum Arbeiten als die Außenstelle einer mittleren Behörde, möglichst weit weg von der Hauptstelle, der Zentrale, den Chefs, mit einem sanft aufsässigen Eigenleben der in die Nebenstelle abgeschobenen Mitarbeiter, die einzige Verbindung das interne Telefonnetz und der Wachtmeister, der mittags die Post bringt und abholt.

Mein Zimmer ging nach Süden zum Dom. Ich sah den ganzen Tag hinaus: auf die Bauarbeiter, die das Kirchendach reparierten, die Autos, deren Besitzer im Dombüro irgendwie einen Schlüssel für den Parkplatz besorgt hatten, die Hunde, die auf den alten Kirchhof kackten, die Männer, die in der Nische am Pfeiler gegen die Wand des Doms urinierten und das Kirchenschiff, das im Dezember ganz leicht bebte und klang, während sie drinnen das Weihnachtsoratorium probten. Das werde ich vermissen.

Ostermontag

In der Stadt spricht mich ein Mann an und fragt nach einem Laden, in dem er eine SIM-Karte kaufen könne. Er komme aus Milano, Italy, Tourist und wolle einen Freund besuchen und habe nur dessen Nummer. Ich versuche zu erklären, dass heute kein einziger Laden offen hat, a christian holiday. Ich gebe ihm mein Telefon, es antwortet nur eine Mailbox. Ob ich dann wüsste, wo es Wifi gebe, sein Freund habe WhatsApp. Mir fällt ein, dass es im Sofa jetzt Freifunk gibt. Ein türkisches Restaurant, Türkiye, er nickt, kommst du aus der Türkei, er nickt wieder. Wir gehen hin. Der Mann ruft H. nochmal an, maybe he is still sleeping, beim zweiten Mal geht der Freund endlich ran, der Mann spricht Arabisch mit ihm und fragt nach seiner Adresse und schreibt etwas auf, damit könne er zu einem Taxifahrer gehen. Er zeigt mir den Zettel: vitospring, ich habe den Namen noch nie gehört. Ob H. deutsch sprechen könne, er lacht, nein, natürlich nicht. Ich rufe selbst bei H. an und verstehe den Straßennamen auch nicht. Er schickt seinen Standort mit Google Maps, Vitus-Bering-Straße. Ich biete dem Mann an, ihn dort hinzufahren, er ist erleichtert. Auf dem Weg erzählt er, dass er aus Syrien komme, a doctor for children, Baschar al-Assad habe ihr Viertel bombardiert. Er spricht dieses kehlige A und dieses rollende R und zeigt mit seinen Händen, wie die Bomben einschlagen. Seine Frau sei mit Baba und den Kindern in Jordanien, er selbst sei in Istanbul gewesen, dort sei es schwer für Syrer. Hoffentlich könne er Baba und seine Frau und seine Kinder bald nach Deutschland holen, niemand verdiene diesen Krieg. Ich denke an Dublin II und an die vielen irakischen Geschichten, die ich gehört habe, ich kann das nicht ausstellen und weiß nicht, was ich ihm glauben soll. Als ob das wichtig wäre. H. steht in der Tür und wartet schon auf uns. Sie umarmen sich dreimal, wir schütteln uns die Hände. Ich solle doch bitte zum Tee bleiben, aber ich bedanke mich nur und fahre zurück in die Stadt, ohne nach seinem Namen gefragt zu haben.