Schlagwort: Greifswald

Auf dem Karl-Marx-Platz steht seit einiger Zeit ein Kunstwürfel, der in der Dunkelheit eines Novembernachmittags wie ein verirrtes Raumschiff leuchtet. Gerade wird dort eine Installation von Krzysztof Sikorski gezeigt, die Europa heißt. Europa lebt davon, dass wir miteinander sprechen, uns unterscheiden und respektieren, schreibt er. Das klingt etwas pathetisch, denke ich, aber gilt wohl für alle, die sich an einen Tisch setzen und gemeinsam etwas essen wollen.

Als ich auf dem Heimweg in die Domstraße einbiege, beschleunigt hinter mir heftig ein Auto. 60 … 70 … er zieht links vorbei. Vor dem Universitätsgebäude erwischt er fast den kleinen Jungen, der auf einem Kinderfahrrad leicht schwankend hinter seiner Mutter herfährt. Die Mutter rudert mit dem Arm und bedeutet ihrem Sohn, direkt hinter ihr zu bleiben, dicht vorbei an den parkenden Autos auf der rechten Straßenseite, in denen glücklicherweise gerade niemand die Fahrertür aufreißt. Im Augenwinkel Kinder, die mit den Füßen im Brunnen auf dem Rubenowplatz stehen und uns nachsehen.

Mein Puls beschleunigt auch und ich fahre dem Auto hinterher, die ganze Domstraße entlang, rechts in die Fleischerstraße, links in die Rakower Straße. Er ist schnell, doch ich behalte Sichtkontakt. Ich überlege, was ich mache, wenn er in die Tiefgarage fährt, aber er biegt in Richtung Markt ab und dann in die Mühlenstraße und das ist eine Sackgasse. In der Mühlenstraße steht ein Lieferwagen, das Auto kommt dahinter zum Stehen. Drei Jungs, der Fahrer mit Sonnenbrille. Ich klopfe, er lässt das Fenster runter.

– Alter, du hättest vorhin fast den Jungen mitgenommen! Das ist eine Fahrradstraße! Fahrradstraße, 30, Fahrräder von beiden Seiten! Das ist doch Scheiße!

Ich fuchtele herum und zeige immerzu drei Finger hoch, so als ob er nicht wüsste, was 30 ist.

– Ja, habe ich auch schon gemerkt. Tut mir leid.
– Okay. Nächstes Mal. Alles gut.

Ich fahre nach Hause.

Im Mai

Am Vormittag irre ich mit dem Fahrrad durch das Gewerbegebiet, um den Weg durch die Bäckerwiesen nach Süden zu finden. Fahrradfahrer stellen in einer durch Autohäuser, Baustoffhandel und Tanzstudios überformten Soziokultur einen Fremdkörper dar. Hinter der Umgehungsstraße spannt sich der pommersche Himmel über die Felder. In Weitenhagen stehen die Mülltonnen gerade ausgerichtet an der Straße, ich fahre hinter dem Müllauto bis zur kleinen Kirche. Die Glocken sind vor dem Eingang aufgehängt. Der Küster hat ein Gestell für die Gießkannen gebaut. Die Kannen sind beschriftet. Im Schaukasten an der Straße hängt der Monatsspruch mit einer plattdeutschen Übersetzung: Kolosser 4.6. Gleich gibt es Mittag.

Meine Eltern sind gekommen und mein Bruder und S. auch. Wir sitzen am Küchentisch und essen Kuchen. Es gibt Gelegenheit, etwas im Isländisch-Wörterbuch nachzuschlagen. Familie.

Am Museumshafen ist ein Foodtruckevent. Irgendwann haben sie aufgehört, von Imbisswagen zu reden. Foodtruckevent bedeutet, dass man 20 Minuten anstehen muss, um dafür Eintritt zu bezahlen, dass man nochmal 20 Minuten anstehen muss, um dann auf Holzbänken überteuertes Fastfood mit internationalen Bezeichnungen zu essen. Es ist ein Rummelplatz, nur ohne Fahrgeschäfte: auf das Wesentliche reduziert. Die Sonne scheint, der Wind weht kalt vom Wasser herüber. Ganz Vorpommern ist auf dem Weg hierher, ein buntes Gewimmel. Es ist ungefähr so, als ob jemand einen Hektar Berlin-Mitte ausgestanzt und auf die nördliche Hafenseite verschoben hätte. Zwei Iren machen auf einer kleinen Bühne Musik und es ist sehr schön.

Am Abend spielen Rest in Beats und Echoes in Veil im St. Spiritus. Dankbar dafür, dass es den Nordischen Klang gibt.

Drei Anrufe bekommen, über die ich mich alle gefreut habe.