Demokratie funktioniert. Noch nie gab es bei den Kommunalwahlen hier so viele Listen und Kandidaten wie in diesem Jahr. Im Wahllokal standen sogar Stühle, auf denen man nach der Registrierung warten konnte, bis eine Wahlkabine frei wurde. Es war ein bisschen wie beim Arzt, nur dass man nicht aufgerufen wurde und es keine Zeitschriften gab. Der Mann in der Kabine neben mir hat offenbar alle vier Stimmzettel komplett durchgelesen, bevor er sich entscheiden konnte, das hat bestimmt zehn Minuten gedauert. Bei mir ging es schneller. Ich habe nur Leute gewählt, die ich persönlich kenne. Einfacher war es nur, als ich noch in einer Partei war, damit wird einem die Entscheidung abgenommen, das ist sehr entlastend. Wenn du nie weißt, was du wählen sollst: Das ist meine Empfehlung.
Schlagwort: Greifswald
Bücher
In unserem Viertel gibt es jedes Jahr einen Stadtteilflohmarkt. Die Leute bauen vor ihrem Haus einen Tisch mit ihren Sachen auf und setzen sich dahinter. In unserem kleinen Literaturhaus im Viertel gibt es dann immer einen Bücherflohmarkt. Die Leute können in den Wochen davor zu uns kommen und alle Bücher abgeben, die sie nicht mehr haben wollen. Alles, was reinkommt, ordnen wir ein bisschen, packen es in Pappkartons und stellen es in den Garten. Den größten Schrott sortieren wir vorher aus. Alle Einnahmen gehen an das Literaturhaus, gemeinnützig, kein Gewinn, wie das so ist. Mit Lesungen und einer Galerie kann niemand Geld verdienen.
Aber die gute Tat kommt hinterher. Alle Bücher, die niemand haben wollte (das sind die meisten), stellen wir neben die Eingangstür. Am nächsten Morgen kommt ein Trupp von der Diakonie und nimmt sie mit. Sie trennen den Einband vom Buchblock und recyceln das Papier. Ich glaube, sie bekommen sogar etwas Geld dafür. Die Leute von der Diakonie sind meine Helden. Sie tun das, was keiner tun will: Sie werfen Bücher weg. Sie erhöhen die Ordnung. Sie reduzieren Entropie. Sie befreien die Leute von Dingen, die sie nicht mehr haben wollen, die aber noch mit Sinn aufgeladen sind. Leute, die denken, dass es bestimmt noch jemanden gibt, der das 21-bändige Lexikon mit dem Stand von 1992, leicht angestoßen, gebrauchen kann und der zu Hause genug Platz im Regal hat. Aber die Leute hatten den ganzen Nachmittag Zeit, das Lexikon abzuholen, und wer kein Geld hatte, musste auch nichts bezahlen. Niemand wollte es mitnehmen. Jetzt kommt es weg.
Wir sollten ein Plakat aufhängen: Alle Bücher, die heute nicht verkauft werden, landen morgen im Papiercontainer. Aber das machen wir nicht. Wir arbeiten nicht mit dem schlechten Gewissen der Leute, das wäre nicht fair. Die Leute denken wahrscheinlich, wir räumen abends alle Bücher auf den Dachboden unseres kleinen Literaturhauses oder in den Bücherbaum an der Europakreuzung oder ins Sozialkaufhaus oder in die Bücherscheune. Irgendwohin, wo sie gebraucht werden. Meinetwegen.
Als ich abends nach Hause ging, hatte ich einen kleinen Karton unter dem Arm, halb voll.
Vor der Kaffeebar in der Fußgängerzone hatte jemand ein Schachbrett aufgebaut. Als er meinen erstaunten Blick sah, lud er mich zu einer Partie ein. Ich sagte, dass ich aber ziemlich gut spiele, worauf er erwiderte, dann würde er wenigstens etwas lernen. Was er denn in der Stadt mache, wollte ich wissen. Er habe einen Luftwechsel gebraucht und es gefalle ihm hier gut. Seine Promotionsarbeit sei fast fertig, aber noch nicht ganz. Mathematik. Ich fragte ihn nach dem Thema. Seine Antwort kann ich schon jetzt, wenige Stunden nach unserer Schachpartie, nicht mehr wiedergeben. Irgendetwas mit symmetrischen Strukturen geometrischer Körper im höherdimensionalem Raum. Er versuchte, es mir zu erklären. Ich war mir nicht sicher, ob er sich die ganze Geschichte gerade in diesem Moment ausgedacht hatte, der Gegenstand seiner Erzählung konnte für mich genauso gut ein Märchen wie eine wissenschaftliche Arbeit sein. Wenn etwas unserer Vorstellungsvermögen übersteigt, ist es Wunder und Wirklichkeit zugleich.