Schlagwort: Familie

Gesichter

Herr Buddenbohm brauchte einen neuen Personalausweis:

Ich stand dann einen Moment etwas entgeistert vor dem Gerät. Denn das Bild zeigte, als es endlich bei Kinn und Bartlinie angekommen war und das Gesicht vollständig freigab, nicht etwa mich, wie ich selbstverständlich erwartet hatte. Es zeigte vielmehr in aller Deutlichkeit meinen Vater.

Das Erlebnis hatte ich in diesem Jahr, als die Optikerin ein Foto von mir mit dem in Aussicht genommenen Brillenmodell machte (ich selbst konnte mich durch die Gläser ohne Stärke nicht im Spiegel erkennen) und es mir zeigte. Aus dem Bild sah mich mein Vater an.

Mein Personalausweis ist schon lange abgelaufen, aber der Reisepass ist noch gültig.

Nach dem Skatabend ein Gespräch mit einem Mitspieler aus der letzten Runde:

– Fährst du eigentlich LKW?
– Ich habe einen LKW-Führerschein, aber ich bin lange nicht mehr gefahren.
– Du bist also kein Fahrer?
– Ich glaube, meine Berechtigung ist inzwischen auch entfallen, die muss man regelmäßig erneuern, denke ich.
– Ich meine als Beruf?
– Nein, ich bin kein Fahrer. Wie kommst du darauf?
– Bei uns hat mal einer gearbeitet, der ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich hätte wetten können, dass du das bist. Wirklich erstaunlich.
– Das ist ja ein Ding. Wie heißt der denn?
– Der heißt R.V., er kommt aus Wolgast.
– Das kann ich nicht sein, ich bin aus Barth.

Noch eine Familiengeschichte

Über das Zeitungsportal der Deutschen Digitalen Bibliothek bin ich auf diesen Bericht im Hamburger Fremdenblatt vom 12. Dezember 1901 gestoßen.

Schwerer verlief der Unglücksfall des Dampfers „Achroite“, den wir gestern auch telegrafisch mitteilten. Der englische Kohlendampfer „Achroite“ aus Glasgow, von Hamburg in Ballast nach der Tyne bestimmt, trieb am Montagabend mit gebrochenem Schaft in der Nähe von Helgoland unter Notsignalen, Hilfe verlangend. Gegen 3 Uhr heute Nacht traf der von der Nordsee nach Hamburg bestimmte Hamburger Fischdampfer „Erna H.H.“ den „Achroite“ in seiner hilflosen Lage an und erbot sich, denselben ins Schlepptau zu nehmen. Bei diesem Versuch geriet „Erna“ unter das Heck der „Achroite“, eine schwere See hob zu gleicher Zeit den „Achroite“, so dass derselbe dann auf „Erna“ fiel, dieselbe so schwer beschädigend, dass sie sofort sank; von der gesamten Mannschaft rettete sich nur der Netzmacher Josef Reichelt an Bord der „Achroite“, so dass neun Mann leider ihren Tod in den Wellen fanden. „Achroite“ verlor bei dieser Kollision das Ruder, den Hintersteven, Schraube und ist am Heck überall schwer beschädigt.

Von anderer Seite wird über den furchtbaren Schiffsunfall noch Folgendes berichtet: Die „Erna“ machte sofort alle Anstrengungen zur Rettung des bedrängten „Achroite“, sie kam näher und versuchte, eine Schlepptrosse nach dem gefährdeten Schiffe auszubringen. Nach vielen vergeblichen Versuchen fuhr die „Erna“ schließlich ans Heck des „Achroite“, um hier eine Schlepptrosse entgegenzunehmen. Dieses wurde zum Verhängnis. Die hochgehende See warf den „Achroite“ gleich einem Spielball empor. Das Schiff bäumte sich hoch auf, vergrub dann die Back tief in die See, um gleich darauf beim Wiederausrichten das Heck niedersinken zu lassen. Ein entsetzliches Krachen erfolgte: Das Heck des „Achroite“ war direkt auf die „Erna“ niedergefallen. In äußerst kurzer Zeit wiederholte sich der vorbeschriebene Vorgang: Das Heck des „Achroite“ donnerte noch einmal auf die „Erna“ nieder, dass letztere sogleich auseinanderbarst und in die Tiefe sank. Die aus Kapitän und neun Mann bestehende Besatzung der „Erna“ schwamm auf den wildempörten Wogen umher. Die Mannschaft des „Achroite“ musste zum eigenen Entsetzen untätig zusehen, wie die Leute von den gierigen Wellen verschlungen wurden, denn sie konnten nicht helfen, da ihr Schiff so stark schlingerte, dass bald die eine, bald die andere Seite des „Achroite“ ins Wasser tauchte. Das erschütternde Unglück hat sich in sehr kurzer Zeit vollzogen. Nur der Netzmacher Josef Reichel, ein im Jahre 1881 in Neustadt (Oberschlesien) geborener junger Mann, konnte an Bord des „Achroite“ gerettet werden. Alle übrigen braven Leute von der „Erna“, Kapitän und acht Mann sind ertrunken. Es sind 1) Kapitän H. Lühmann, gebürtig im Jahre 1869 zu Borstel, ansässig zu Leeswig, 2) Steuermann August Kalhorn, geboren im Jahre 1870 zu Alt Passarge in Mecklenburg, 3) Maschinist Herrmann Wagner, geboren im Jahre 1867 zu Fischau bei Danzig, 4) Zweiter Maschinist Arthur Proschinsky, geboren im Jahre 1869 zu Reudnitz, ansässig in Leipzig, 5) Heizer Wilhelm Wiechmann, geboren im Jahre 1377 zu Hoppenrade, ansässig in Fense, 6) Koch Wilhelm Dierking, 1870 in Rönnebeck geboren, in Geeste ansässig, 7) Matrose Heinrich Turowsky aus Burg in Dithmarschen, 1878 geboren, 8) Matrose Paul Engel, 1883 zu Bützow geboren, in Wismar ansässig und 9) Matrose Majus Poulsen aus Nakskov, 1881 in Sandby geboren. Diese sämtlichen neun Personen haben den Seemannstod erlitten.

Am Dienstagmittag traf der englische Dampfer „Corennie“ den „Achroite“ und versuchte denselben zu schleppen, jedoch zerrissen bei der hohen See bald dessen gesamte Trossen, so dass der dann eintreffende Hamburger Schleppdampfer „Vulcan“ zu Hilfe genommen wurde. Hierauf traf dann „Vulcan“ den „Achroite“ schleppend und „Corennie“ denselben steuernd, und nachdem unterwegs der Hamburger Schlepper „Tell“ noch ebenfalls angenommen wurde, der Schleppzug gegen 8.30 Uhr auf der Cuxhavener Reede ein. Von hier ging „Achroite“ im Tau der Schlepper „Vulcan“ und „Tell“ nach Hamburg auf.

Von den Verunglückten war nur der Steuermann Kalhorn verheiratet. Der brave Schiffsführer Kapitän Lühmann war verlobt und beabsichtigte, Weihnachten seine Hochzeit abzuhalten. Der Fischerdampfer „Erna“ ist 1890 erbaut, das Schiff ist 30 Tonnen groß und hat eine 250-pferdige Maschine.

August Kalhorn aus Alt Passarge in Ostpreußen (nicht Mecklenburg, hier irrt der Artikel) war der Bruder meines Urgroßvaters Georg, der auf den Darß gezogen war. Drei weitere Brüder sind im Ersten Weltkrieg gefallen. August war verheiratet mit Margarete Kinau aus Finkenwerder, einer Schwester von Gorch Fock. Das alles wusste ich bis gestern nicht.

Hamburg, Herbst

Ich verstehe nicht, wie der Hauptbahnhof überhaupt funktioniert. Ein Gewirr aus Brücken, Treppen und Tunneln. Ausgänge zu allen Seiten. An jedem Bahnsteig warten drei Züge. Der Bahnhof ist zu klein für diese Stadt und die Stadt ist zu groß für diesen Bahnhof. Eine Ameisenstraße anlegen und niemals von ihr abweichen.

Mein Bruder hat einen Kebabladen in Hoheluft ausgesucht. Sie kontrollieren sorgfältig unsere Impfausweise. Das Essen ist gut, aber nach einer Weile bemerken wir einen seltsamen Geruch. Ich denke zuerst an den Autoverkehr der vierspurigen Straße vor unserer Tür, aber mein Bruder riecht das Gas. Er geht zur Theke, jetzt merkt es der Inhaber auch, aber die Leitungen sind alle okay, sagt er und zeigt mit den Händen unbestimmt in Richtung Wand. In meinem Kopf läuft ein Film ab, die Druckwelle der Explosion schleudert uns durch die großen Glasfenster auf die Straße, das wäre der richtige Abschluss für diesen traurigen Tag, aber erst muss ich noch aufessen.

Das Krankenhaus ist ein ganzes Stadtviertel. Als ich auf die neue Station komme, begrüßt mich die Schwester schon an der Tür. Ich war gerade bei Ihrem Vater im Zimmer. Ich wusste ja, dass er heute Besuch von seinem Sohn bekommt und als ich Sie vom Fenster aus auf der Straße gesehen habe, wusste ich gleich, dass Sie es sind. Sie sehen aus wie Ihr Vater.

Mit meiner Mutter machen wir einen Ausflug zur Schiffsbegrüßungsanlage in Wedel. Es ist kalt und windig, aber immerhin kommt nach einer Weile ein großes Containerschiff herein. Über die Lautsprecheranlage werden ein Begrüßungstext und die indonesische Hymne abgespielt. Das Schiff hupt. So hat alles seine Ordnung.

Überall treffe ich freundliche Menschen. Überall treffe ich freundliche, reiche Menschen. Die U-Bahnhöfe haben gemütliche Namen. Schlump, Eppendorfer Baum, Lattenkamp. Das Verkehrssystem ist chaotisch und nicht zu verstehen, aber alle bleiben ruhig dabei.

Am schönsten ist es, mit dem Fahrrad durch die Stadt zu fahren. Alster, Norderelbe, Isebekkanal. Wir fahren durch den Alten Elbtunnel und trinken am Kiosk auf der Südseite ein Astra, wie alle Touristen. Wir finden die John-Lennon-Tür. Wir umrunden den ganzen Flughafen. Randlagen, Uferwege, Endhaltestellen.


Mein Bruder holt mich aus dem Plattenladen ab. Vorn bei den Neueingängen stehen das Rote und das Blaue Album. Er hat beide noch nicht und ich schenke sie ihm kurzerhand. Die kulturelle Mindestausstattung eines jeden Haushalts. Später stellt sich heraus, dass mein Bruder der erste Mensch auf der Welt ist, dem die frühen Sachen besser gefallen als die späten, aber Kunststück, wir sind in Hamburg, das wirkt noch lange nach.