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In der Turnhalle

In meiner Schublade liegt ein kleiner Zettel, den ich mit Vaters Schreibmaschine getippt und wie auch immer vervielfältigt haben muss. Es ist das Programm für eine Theateraufführung im April 1989. Kopiergeräte gab es damals eigentlich nicht. Der Staat hatte ziemliche Angst vor Flugblättern und solchen Sachen.

Wir spielten ein 15 Jahre altes polnisches Stück, das wir nicht verstanden hatten, aber wahrscheinlich verstanden wir alle nicht, was in diesem untergehenden Land gerade geschah und dadurch passte es ganz gut. Es ging irgendwie um Verrat und im Text stand die schönste Liebeserklärung, die ich jemals gelesen hatte. Das Stück spielte in einer Turnhalle, also spielten wir es in der alten Turnhalle auf dem Schulhof. Die Bühne war eine staubige graue Turnmatte, auf der wir sonst unsere Bodenübungen zeigen mussten, die Zuschauer saßen auf den Turnbänken. Bei den Proben tauchte das Problem auf, dass wir ein paar Stellen des Stücks mit unseren sehr begrenzten schauspielerischen Fähigkeiten nicht darstellen konnten. Wir kamen dann auf die Idee, diese Sachen einfach szenisch und mit den Regieanweisungen von denjenigen lesen zu lassen, die gerade nicht dran waren und dafür neben der Bühne sitzen blieben. Das funktionierte einigermaßen und deshalb ließen wir zwischendurch noch ein paar Auszüge aus einer Erzählung von Max Frisch ablaufen, die wir zuvor mit Karstens Doppeldeck auf Kassette aufgenommen hatten. Zwischendurch spielte Malte auf seiner E-Gitarre.

Das alles hatten wir natürlich woanders aufgeschnappt. Theater hatte eine ungeheure Bedeutung in dem untergehenden Land. Wir waren damals dauernd im Theater und die Theaterleute redeten von den Texten als Material, das montiert werden musste und so weiter und so machten wir es auch. Wie auf dem Bau.

Ich denke gern an diesen Abend im April und zum Glück gibt es keine Aufzeichnung, die mir meine Vorstellung zerstören könnte, dass wir etwas Bedeutsames gemacht hatten.

Brot

Eine der Legenden, die ich als Kind aufgeschnappt hatte, lautete, dass es in Barth einmal 13 Bäckereien gegeben hatte. Ich konnte mir das gar nicht vorstellen: 13 Bäckereien in dieser kleinen Stadt und Barth-Süd war damals noch nicht einmal gebaut. 1989 gab es davon nur noch Bäcker Simon und einen Bäcker mit einem schwer auszusprechenden Namen, der deshalb Polenbäcker hieß. Und es gab die Konsumbäckerei, in der ich im Herbst zwei Monate lang arbeitete. Wir fuhren Brot aus, in einem LKW W50 mit Kastenaufbau, der voller Brotkisten war.

Unsere Routen gingen über Land: Kenz-Flemendorf-Karnin, Bodstedt-Fuhlendorf-Bartelshagen-Saal-Tempel, Pruchten-Bresewitz-Zingst-Prerow. In jedem noch so winzigen Dorf gab es einen Konsum und die Leute warteten immer schon auf die Lieferung. In Kenz brachten sich die alten Frauen Stühle in den Laden mit und saßen und erzählten, als wir ankamen. Dort warfen wir die Brote direkt vom LKW durch das Fenster in den Lagerraum, ein Fuß auf der Ladefläche, ein Fuß auf dem Sims, immer zwei Brote zusammen, die Böden gegeneinandergelegt. Alles in Unmengen, Brot war subventioniert und kostete eine Mark, niemand sollte hungern. Die Leute auf dem Dorf verfütterten die Brote an die Schweine.

Ich weiß nicht mehr, wie das Brot aus der Konsumbäckerei Barth schmeckte. Es gab ein Kinderlied mit der schönen Zeile Wieder einer tot vom Konsumbrot, aber schlimmer als von diesen Backshops, die es jetzt überall gibt, kann es eigentlich auch nicht gewesen sein.

Einberufung

Und dann stand ich ganz allein auf dem Hof des Wehrkreiskommandos.

Es war der 1. November 1989. Ich war frühmorgens mit dem Bus nach Ribnitz gefahren, den Einberufungsbefehl zum Ehrendienst in der Tasche, um für die kommenden 18 Monate Personalausweis und Zivilkleidung gegen eine Hundemarke und eine Uniform einzutauschen. Kein guter Tausch, aber immerhin: gegen eine blaue Uniform.

Eigentlich war ich für eine grüne Uniform vorgesehen: Bereitschaftspolizei in Stralsund. Nicht nur, dass die Uniformen hässlich waren, die Leute auf der Straße hielten dich auch noch für einen Volkspolizisten statt für das arme Schwein, das seinen Grundwehrdienst machen musste. Aber vor ein paar Wochen hatten sie mich noch mal einbestellt, »zur Klärung eines Sachverhalts«, in das Wehrkreiskommando, auf dessen Hof ich jetzt stand. Ich hätte die Sache mit meinem Bruder ja sicher gehört und obwohl es ja kein politischer Antrag sei, sondern aus … humanitären Gründen, würde ich doch sicher verstehen, dass ich unter diesen Umständen – und das sei keine Sippenhaft – natürlich nicht, aber eben doch eine enge familiäre Bindung … nicht mehr zur Bereitschaftspolizei, die doch in mancherlei Hinsicht besondere Anforderungen … jedenfalls sei ich jetzt für die Volksmarine vorgesehen. Ich war nicht gerade unglücklich über diese bürokratische Wendung, machte aber sicherheitshalber trotzdem ein ernstes Gesicht.

Und jetzt stand ich auf dem Hof, in der Jacke der Personalausweis, zwischen den Füßen die Sporttasche mit meinen Sachen. Alle anderen waren schon aufgerufen worden und in ihre »Einheiten weggetreten«. Offenbar war ich versehentlich aus der grünen Liste gestrichen und in die blaue Liste noch nicht aufgenommen worden. Für eine Sekunde glomm die vage Hoffnung auf, irgendwie durchgeschlüpft zu sein. Der Offizier kam auf mich zu.

– Wer sind Sie denn?
– Also wenn ich nicht gebraucht werde, kann ich auch wieder gehen.
– Ihren Namen, Genosse!

Es war ganz klar nicht der richtige Zeitpunkt, um Witze zu machen. Der Offizier ging in sein Büro und nach fünf Minuten stand ich bei den anderen armen Schweinen, die zum Rügendammbahnhof fuhren und dann auf den Dänholm marschieren mussten, um die blaue Uniform anzuziehen.