Im Tunnel

[etwa Tag 35]

Sind wir noch im Tunnel?

Ich habe den Kontakt zur Zentrale verloren. Die JUSTICE treibt in diesem Gebilde, von dem wir nicht wissen, wohin es führt und wie groß es ist. Sie sagen, dass wir die Fahrt am schnellsten hinter uns bringen, indem wir uns nicht bewegen. Aber heute Nacht habe ein Brummen gehört, ein leichtes Vibrieren hinter der Kabinenwand, so als ob der Antrieb wirklich Geräusche machen würde, so wie die Schiffsmotoren in den alten Filmen, die neuerdings wieder im Holo-Strom gezeigt werden. A. weiß alles über diese Filme, aber er hat jetzt sicher keine Zeit dafür, weil er den Edu-Server am Laufen halten muss. Die Hypnoschulungen fallen aus, es soll irgendein Hygieneproblem geben, so dass die Kinder jetzt tagsüber präsent unterrichtet werden müssen, wie ganz früher. Zum Glück wirft A. nichts weg und konnte aus irgendeiner Rumpelkammer einen physikalischen Serverblock herbeizaubern. Lange Gesichter bei den Kids natürlich.

Es muss an die zwei Wochen her sein, als ich mich das letzte Mal in der Zentrale habe blicken lassen. Vorgestern kam ein Memo, ich habe es ignoriert und seitdem nichts mehr gehört. Sie haben sogar ein Audiosignal in meine Kabine geschaltet, aber ich verbinde mich nicht. Wenn sie Ärger machen wollen, kann ich mich immer damit rausreden, dass die veraltete Komm-Technik Zicken macht. Glaubt jeder sofort. Aber wahrscheinlich laufen in der Zentrale auch nur noch die Routinen des Autopiloten.

Ab und zu meldet sich DM aus dem Med-Punkt. Sie haben sich verbarrikadiert, es kommt niemand mehr rein oder raus. Die Kinder haben sie mitgenommen. Die Wände sind 30 Zentimeter blanker Titanstahl, keine Chance für den Edu-Server. Aber was sollten sie machen. DM hat angeblich Kontakt zur Schiffsführung, es soll ein Zelt vor dem Med-Punkt geben, das F-Zentrum, aber das glaube ich nicht. Wenn sich die Schiffsführung auf das Holo schaltet, sind das Aufzeichnungen, mindestens einen Monat alt. Captain Cor hat auf den Bildern noch kurze Haare, lächerlich. Lauter Amateure in der Agit-Abteilung.

Gestern noch ein Memo von Lt. Hulot aufgefangen, unvollständig. Die Relaiskette ist nicht gerade die Technik, auf die man sich in dieser Situation verlassen will, aber besser als gar nichts. Ich meine, damit haben schon die Russen den Mond besiedelt, falls jemand noch weiß, wo der ist. Immerhin funktioniert die Kette stundenweise, alles andere ist längst offline. Hulot ist jedenfalls stinksauer. Sein Flottenkommando hat ein Update auf das Handbuch für Außeneinsätze geladen und jetzt soll auf einmal seine Ausrüstung nicht mehr genügen. Also, der Mann hat schon mal dreißig Sekunden im freien All überlebt, kurz nach dieser Offworld-Sache, von der niemand mehr reden will und jetzt wollen sie ihn nicht mehr vor die Tür lassen? Alles Sesselfurzer, die noch nicht mal einen simplen Quarzantrieb in Gang bringen könnten, sagt er, und das ist noch sehr milde ausgedrückt. Jedenfalls ist er erstmal verschwunden, der Fähnrich hat mir gesteckt, dass Hulot vor dem Abflug in einem leeren Beiboot-Hangar einen Meter Muttererde aufgeschüttet haben soll, am Flottenkommando vorbei, wie auch immer. Auf dem Kontroll-Holo ist dort nur ein undeutliches Wabern zu erkennen. Ich nehme an, dass er da gerade eine Gartenlaube hochzieht.

Im Trivia-Holo wird neuerdings erzählt, dass es den Tunnel gar nicht gibt. Die Zentrale will nämlich …

[Kal’Orn Ende]

Seit einem Monat kann ich wieder richtig schlafen. Die Burschenschaftler sind verschwunden, der Club um die Ecke ist geschlossen, niemand zieht mehr nachts schreiend durch die Straße. Morgens werde ich nicht mehr von Autos geweckt, sondern von den Vögeln. Kann meinetwegen so bleiben.

Keine Termine mehr, keine Verabredungen, keine Arztbesuche, keine Physiotherapie, nicht mehr ins Theater, nicht mehr ins Kino, nicht mehr ins Restaurant, keine Besuche, kein Zug, den wir kriegen müssen, gar nichts mehr. Wenn ich meine Arbeit geschafft habe, fahre ich für eine Stunde ins Büro und hole mir neue. Papier ist schwer, das nächste Mal nehme ich den Fahrradanhänger mit und packe die volle Aktentasche da rein.

Aber ich vermisse die Gespräche. Wenn ich jemanden auf der Straße treffe, läuft immer diese Unruhe mit: Stehen wir weit genug auseinander? Sind die 15 Minuten schon um?

Lange wird das nicht mehr halten. Diese merkwürdige Mischung aus Linken, Rechten und Wirtschaftsliberalen, die Grundrechte! und Verhältnismäßigkeit! schreien und keine Ahnung haben, was das überhaupt ist. Dieser Möchtegern-Kanzler, dem seine Berater gesagt haben, dass er vorwegmarschieren soll, mit seinem Watschelgang und jetzt hat er einen Professor eingekauft und eine PR-Agentur macht alles instagrammable.

Vielleicht sind die Professoren in den Talkshows bloß gecastet? Ich meine, woher kommen die plötzlich alle? Hat die vorher schon mal jemand gesehen?

Heute die große Fahrradrunde. Die Kondition ist sonstwo.

Ich bin jetzt Candidate Master, so ähnlich werde ich mich fühlen, wenn ich draußen mit einer Maske herumlaufe. Alle gucken komisch.

Den ganzen Sonnabend an einem Text geschrieben, den ein Kollege heute mit freundlichen Worten in den Papierkorb geworfen hat. Die nächsten vier Tage den Text eines anderen Kollegen überarbeiten. Es wird Zeit, dass ich wieder Texte für mich schreibe.

Ich bin so dankbar, dass ihr noch eure Blogs habt. Hoffentlich macht später niemand Bücher daraus. Blogs sind keine Literatur, zum Glück. Blogs sind etwas anderes.

Darüber nachgedacht, ob ich auch noch einen Corona-Text schreiben sollte. Mein Thema wäre Vorsorge. Mir gefällt das Wort. Den Gedanken wieder verworfen. Ich meine, wenn es etwas zur Genüge gibt, dann sind es Essays über das Virus.

Am Sonntag haben wir auf Skype zusammen ein Geburtstagslied gesungen.

Heute war ein warmer Tag. Die Sonne auf mein Herz scheinen lassen. Am Nachmittag stand ein Vollmond über dem Dach des Nachbarn.

Ich würde gern meine Eltern sehen. Wahrscheinlich wäre jetzt die beste Zeit dafür, bevor alle wieder rausgelassen werden. Noch sind die Züge leer.