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Wie ich einmal an der Volkskammerwahl teilnahm und beinahe die deutsche Einheit verhindert hätte

Den 18. März 1990 verbrachte ich in Peenemünde. Hitler hatte dort mal versucht, den Weltkrieg doch noch zu gewinnen, ohne Erfolg. Danach war die Volksmarine in die vorhandenen Baracken gezogen und auf die freien Flächen dazwischen hatten sie noch ein paar neue Kasernen gebaut. Der Wald lag voller Munition und war gesperrt. Volksmarine bedeutete blaue Uniformen mit blanken Knöpfen, gestreifte Pullis und einen warmen Rollkragenpullover. So als ob wir zur See fahren würden und richtige Matrosen wären. Und wir mussten nicht in einen Panzer kriechen. Man konnte aufs Wasser gucken und am Kai lagen ein paar Schiffe. Es hätte schlimmer kommen können.

Sonntags wurden wir erst um sieben geweckt und es gab Weißbrot und Kakao aus Porzellankannen. Die Entlassungskandidaten ließen sich von uns auf der Stube bedienen. Der 18. März 1990 war auch ein Sonntag. Die Angehörigen der bewaffneten Streitkräfte wählten an ihren Standorten. Immerhin hatten sie kein Wahlbüro in der Kaserne eingerichtet. Wir durften also aus dem Tor rausmarschieren und zur zivilen Wahlkabine im Ort ziehen. Wenn man in Peenemünde überhaupt von zivil sprechen konnte. Im Dorf wohnten die Offiziere mit ihren Familien und wahrscheinlich der Koch und die Kellnerin aus der örtlichen Kneipe, die ausschließlich von unglücklichen kurzhaarigen Jungs frequentiert wurde. Leuten wie mir. Ein paar Zivilangestellte gab es vielleicht auch noch. Und jemanden für die Bahnschranke. Waren noch Fischer im Dorf? Ich glaube eigentlich nicht.

Das war überhaupt die erste Wahl in meinem Leben, und ich war ganz schön aufgeregt. Balkendiagramme, Tortendiagramme, Prozentrechnung – das ganze mathematische Programm! Ich hatte mich richtig vorbereitet und aus dem Neuen Deutschland und der Jungen Welt die Artikel ausgeschnitten, in denen die ganzen neuen Parteien vorgestellt wurden. Neues Deutschland und Junge Welt waren die Zeitungen, die die Volksmarine für uns abonniert hatte. Wegen der politischen Bildung wahrscheinlich, aber der Politunterricht hatte schon mehrere Monate nicht mehr stattgefunden und die Politoffiziere mussten jetzt wahrscheinlich den Exerzierplatz fegen oder so. Es war eine stille Zeit. Die Waffen waren längst eingefettet und weggeschlossen. Es gab keine Anweisungen mehr. Das riesige Telefaxgerät mit der kyrillischen Tastatur schwieg beleidigt und das Telefaxgerät mit den lateinischen Buchstaben bekam nur noch zweimal am Tag den Seewetterbericht. Die Staatssicherheit in der Etage über jener Telefonzentrale, in der ich Dienst tat, war schon im Januar ausgezogen. Ich konnte mich selbst davon überzeugen, weil ich jetzt auch noch dort die Toiletten putzen musste. Obwohl sie nicht mehr benutzt wurden. Aber vielleicht wollte man sich alle Möglichkeiten offenhalten. Im Dezember noch hätte ich nicht mal die Treppe hochgehen dürfen. Alle taten ein bisschen so, als ob wir noch eine richtige Armee wären, machten einfach weiter und warteten ab, was passieren würde. Manche träumten vielleicht von der Konterrevolution und manche studierten schon die Besoldungstabellen der Bundeswehr.

Eigentlich wollte ich die DDR nicht gleich wieder loswerden, nachdem sie gerade begonnen hatte, liebenswürdig zu werden. Aber man konnte ja wohl nicht ernsthaft diese Partei wählen, die jetzt erzählte, sie hätte es schon immer ein bisschen fetziger haben wollen, sei daran aber leider von diesem Honecker gehindert worden. Es roch irgendwie nach diesen Berufsjugendlichen von der FDJ-Bezirksleitung. Ich wählte dann eine Liste, die am Ende genau einen Abgeordneten in die Volkskammer schicken durfte. Der Mann hatte einen schwarzen Rauschebart, und ich habe mir manchmal angehört, was er in der Volkskammer sagte. Ich war mit meiner Entscheidung sehr zufrieden und wenn ich heute darüber nachdenke, bin ich es immer noch. Ich wollte schon immer bei den Verlierern sein.

Ich erinnere mich, dass an diesem Abend am 18. März 1990 plötzlich jemand über den Flur rief, die PDS habe gewonnen. Heh, wir machen doch weiter mit der DDR, dachte ich für einen Moment und mein Herz pochte. Aber er meinte natürlich nur unser kleines Wahlbüro in dieser Gemeindebude aus Pappe. Wenn es damals nach Peenemünde gegangen wäre, würde es die DDR heute noch geben. Vielleicht aber auch nicht. Ist jetzt sowieso egal. Wir bekamen dann diesen Bluespfarrer als Minister. Keine Ahnung, ob er mal unsere Kaserne besucht hat, ich habe davon jedenfalls nichts mehr mitbekommen. Im April gab es endlich dieses Zivildienstgesetz und ich konnte nach Hause fahren. Den Ringelpulli habe ich mitgehen lassen. Den brauchte dort ja niemand mehr.

Wie ich das erste Mal in den Westen fuhr

Eigentlich durften war nicht in den Westen fahren. Wir waren Soldaten, wir hätten ein Geheimnis ausplaudern können oder so. Das waren ja nun nicht gerade die dicksten Freunde der DDR da drüben. Aber wahrscheinlich hatten sich unsere Chefs bei der Armee ausgedacht, dass sie es sowieso nicht verhindern können, oder vielleicht wollten sie auch selbst mal gern in den Westen fahren, ich weiß es nicht. Jedenfalls durften wir dann doch fahren.

Ich war ziemlich gespannt. Ich erinnerte mich daran, wie mein Vater vor ein paar Monaten mit tränenden Augen von einem Verwandtschaftsbesuch zurückkehrt war: »Wenn ihr nur einmal sehen könntet, wie es da aussieht!« In den Restaurants sollen jede menge Tische frei gewesen sein und alles sei so sauber. Vom Begrüßungsgeld hatte mein Vater einen Dörrapparat gekauft. So ein Ding, mit dem man Trockenobst herstellen konnte, eine Art Fön für Früchte. Habe ich seitdem nie wieder gesehen.

1989 drohte das Begrüßungsgeld langsam auszugehen und 1990 sollte es keins mehr geben, stand in der Zeitung, also mussten wir uns beeilen und krabbelten kurz nach Weihnachten in Rostock in einen vollkommen überfüllten Zug nach Lübeck. Als wir in Lübeck wieder rauskrabbelten, stand ein Mann auf dem Bahnsteig und rief: »Alle, die noch kein Begrüßungsgeld haben, mir nach!« Der halbe Zug hinterher, wir auch. Der schien sich auszukennen. Eine Viertelstunde Fußmarsch, irgend so ein Bürogebäude, in dem wir im Flur eine lange Schlange bildeten, das konnten wir gut, es gab einen Stempel in den Personalausweis und endlich konnten wir uns den Westen angucken. Ich begann gleich mit der Bürotoilette und fand keinen Spülknopf am Pissbecken.

Viel mehr weiß ich gar nicht. Ich kaufte ein paar Schallplatten, es gab überall Marzipan und in den Straßen roch es nach Intershop. Die letzte Stunde haben wir auf dem Bahnhof gewartet, um ganz sicher zu gehen, die Rückfahrt nicht zu verpassen. Ich war ein bisschen froh, als ich wieder zuhause war.

Stralsund

Willst du eine wirklich schöne Stelle wissen? Einen schönen Platz auf der Erde? Ja? Dann verrate ich dir jetzt etwas.

Suche dir einen verregneten Herbsttag aus und fahre in den nordöstlichen Zipfel Deutschlands. Dort liegt eine Stadt, die Stralsund heißt (und die auf der ersten Silbe betont wird, nebenher gesagt). Stralsund ist eine schöne Stadt voller alter Häuser, mit einem richtigen Hafen und vielen Seen in der Stadt. Da passt es gut, dass dort das Ozeaneum ist, ein Museum nur für Fische. Das Museum sieht schon von weitem toll aus und drinnen kannst du mit einer riesig langen Rolltreppe nach oben fahren. Nimm dir genug Zeit, es gibt viel zu sehen. Fische sind wunderbare Tiere.

Am längsten habe ich vor den Goldbrassen gestanden. Es sieht wirklich so aus, als hätten sie eine feine Goldschicht auf der Haut, sie schimmern so im Licht. Und sie haben ein schönes Gesicht, sie sehen sehr alt aus. Alt und weise. Sie könnten mir bestimmt eine Menge kluge Dinge erzählen. Aber was? Ich habe genau aufgepasst und versucht es herauszubekommen. Aber leider… können Fische nicht sprechen.

Hast du auch einen Lieblingsplatz?