Kategorie: Weblog

Passage

Der Supermarkt macht in ein paar Tagen zu. Die Regale sind zur Hälfte leer, die letzten Konservendosen stehen in einer langen Reihe nebeneinander, so als ob sie sich gegenseitig Mut machen wollten. Die Kassiererin sitzt auf ihrem durchgesessenen Stuhl und träumt. Zwei alte Frauen halten ihre Körbe fest in den Händen und beklagen sich. Es ist ein bisschen so wie im Juni 1990. Etwas geht zu Ende. Nachts, als wir von der D-Mark-Party nach Hause liefen, kamen wir an der Kaufhalle vorbei, die hell erleuchtet war. Die Verkäuferinnen räumten Unmengen von Waschpulver in die Regale. Das Raumschiff war gelandet.

Moderne Arbeitswelten

Sie sind zu viert hinter dem, was man heute Tresen nennt und was früher Ladentisch hieß. Sie bedienen die Laufkundschaft und die Cafébesucher an zwei Schlangen, sie machen den Kaffee am Automaten, sie backen die Brötchen auf und schmieren zwischendurch die Baguettes. Sie haben eine Art Uniform an und man merkt, dass jedes Wort einstudiert wurde: »Und was nehmen Sie zum Kaffee? Darf ich das Brot für Sie schneiden? Möchten Sie noch etwas Süßes für den Nachmittag mitnehmen? Ja? Nein? Sehr gern!« Hinter dem Tresen ist nicht mal ein Meter Platz. Sie laufen hin und her und passen auf, dass sie dabei nichts umwerfen. Es muss schnell gehen und es ist sehr warm, vor allem, wenn die Backofentür heruntergeklappt ist. Eine Verkäuferin verbrennt sich den Arm an der Tür. Für einen Moment sieht es so aus, als würde sie zusammenbrechen. Ihr stehen die Tränen in den Augen, als sie den nächsten Kunden anlächelt. »Nehmen Sie noch etwas Süßes zum Kaffee heute Nachmittag?« Eine Kollegin tröstet sie. Sie hat Narben am Unterarm.

Als die friedliche Revolution nach Barth kam

Als der Monat Oktober schon fast zu Ende war, dachten die Leute in Barth, dass man langsam auch mal hier etwas für die Revolution tun müsse. Obwohl damals ja noch niemand von einer Revolution sprach. Erich Honecker war gerade verabschiedet worden und Egon Krenz hatte im Fernsehen angekündigt, dass man jetzt eine Wende einleiten werde. Das klang ein bisschen beängstigend, obwohl die Leute in Barth Egon Krenz ja kannten. Der hatte ein Haus in Dierhagen, das, was man damals eine Villa nannte, als man noch nicht wusste, wie eine Villa aussieht. Und manchmal besuchte Egon Krenz dann wohl seine Schwiegermutter in Barth und spazierte durch die Stadt und grüßte freundlich die Leute und die Leute wussten vor Schreck gar nicht, wie sie sich verhalten sollten. Aber jetzt hatte Egon Krenz keine Zeit mehr dafür, der Sommer war vorbei und viele Leute waren aus dem Urlaub gar nicht mehr zurückgekommen und deshalb musste Erich Honecker weg und die Wende eingeleitet werden. Wenn man heute von der Wende spricht, dann zitiert man also eigentlich Egon Krenz und vielleicht sagen die Leute darum jetzt lieber Revolution oder noch besser friedliche Revolution, denn von Revolution hatten Erich Honecker und Egon Krenz ja selbst häufig gesprochen. Man kann da schnell durcheinander kommen.

Jedenfalls überlegten sich die Leute in Barth, dass sie auch ein Friedensgebet machen könnten. Friedensgebete waren nicht verboten, das waren ja kirchliche Veranstaltungen, Freiräume unter dem Dach der Kirche, wie man so sagte, dagegen konnte der Staat nichts machen. Und obwohl es ja noch keine Handys gab und kein Twitter und nicht diese sozialen Netzwerke (also eigentlich gab es natürlich jede Menge sozialer Netzwerke, aber nur offline, gewissermaßen) und man ja nicht eine Ankündigung in die Zeitung setzen konnte, sondern höchstens einen Zettel in den Schaukasten mit den kirchlichen Nachrichten, war das dunkle gotische Kirchenschiff voll mit den Leuten aus Barth und alle strahlten sich an und waren aufgeregt und warteten, was jetzt passieren würde. Der Organist fing schließlich an mit der Revolution. Er stellte sich in den Mittelgang mit einem Zettel in der Hand und sprach von 1953 und 1956 und 1968 und von Solidarność, so diese Sachen. Der Superintendent erzählte von einem Gesprächsangebot des Bürgermeisters und dass man am nächsten Tag ins Rathaus gehen und einen Dialog mit dem Staat führen könne und auf der Straße würden man keine Gesprächspartner finden. Damit meinte er natürlich die Demonstration. Aber die Leute aus Barth waren ja gerade in die Kirche gekommen, um hinterher zu demonstrieren, so wie sie es bei den anderen Leuten gesehen hatten und die meisten gingen dann noch zusammen die Ernst-Thälmann-Straße runter. Ein paar Leute verteilten am Ausgang Handzettel und wollten das Neue Forum auch in Barth gründen, aber dazu ist es dann nicht mehr gekommen.