Kategorie: Weblog

Im September

Vor einigen Jahren habe ich es mit vielen Mühen geschafft, meine Stimmung nicht länger von den Ergebnissen einer Fußballmannschaft abhängig zu machen und ich muss aufpassen, dass das so bleibt.

Mit A. einen Vortrag von Leif Erik Sander gehört. Der Vortrag handelte von Immunologie (was ich vorher wusste) und war auf Englisch (was ich vorher nicht genau wusste). Wissenschaft scheint eine andere Welt zu sein: klug, respektvoll und witzig. Eigentlich wollte ich fragen, ob ich noch eine Impfung brauche, aber dann habe ich mich nicht getraut.

Mit T. teile ich mein Zeitungsabonnement. Er revanchiert sich gelegentlich mit Blumen für E., mit lokalen Nachrichten und mit Reisegeschichten aus der ganzen Welt. T. ist mein persönlicher Korrespondent. Neulich brachte er mir einen Stapel Leerkassetten mit, noch eingeschweißt. Der Nachbar stelle seit Tagen Sachen in die Einfahrt zur Tiefgarage, er habe auch etwa 500 Schallplatten aussortiert, inzwischen sei alles weg. Ich bemerke noch nicht einmal mehr, was in einem Radius von 100 Metern um mich herum passiert.

Die kalten Septembernächte dringen immer weiter in das Haus vor, aber noch schaffen es der Rechner, die Schreibtischlampe und mein Körper, das kleine Arbeitszimmer unter dem Dach bewohnbar zu halten.

H. hat eine Hütte im Wald gebaut und mich eingeladen, mich zu ihm auf die Bank vor dem Haus zu setzen. Die Aussicht ist großartig. Wir sind inzwischen schon zu dritt.

Wir haben aufgeräumt und einen Fahrradanhänger voller Sachen zum Umsonstladen gebracht. Vor dem Eingang war eine lange Schlange, aber wer nur etwas abgeben wollte, musste nicht warten. Seitdem die Flüchtlinge da seien, wären die Regale ständig leer. Der Laden nimmt alles an, alles wird gebraucht, alles außer Bücher aus der DDR, das ist die einzige Ausnahme.

Nachrichten, Telefonate, Sorgen, Unruhe.

Wir haben zwei Tage lang geheizt und dann habe ich die kalte klare Luft im Haus vermisst und die Heizung wieder ausgestellt.

J. hat mich wiedererkannt, großes Glück.

Abends liegt der Geruch von Holz und Kohlen über dem Stadtviertel, als ob es die letzten dreißig Jahre nicht gegeben hätte. Ich denke daran, wie ich die Kohlen für E. in ihr Dachzimmer hochgetragen und wie wir sie in eine Kiste gestapelt haben. Die Kiste war mit rotem Stoff ausgekleidet. Das war unsere erste gemeinsame Wohnung. E. hatte einen Kassettenrekorder, der ein wenig zu schnell lief. Ich nahm Mixtapes für sie auf, so war es wirklich.

Blogs, die nach Jahren der Stille im Feedreader auftauchen, wie eine Auferstehung, aber eine Auferstehung gibt es nicht.

Wenn die Leute wenigstens vernünftige Kachelöfen hätten, statt dieser erbärmlichen Kamine.

Im Forum hat jemand einen Radiosender aus Hongkong empfohlen, den ich gerade höre, während ich das alles in mein Blog schreibe. Er klingt ganz nahe.

Lund

Plattentektonik: Unerwarteterweise liegt Lund auf einem Höhenzug. Die Stadt steigt nach Nordosten hin unentwegt an. Zwischen dem Bahnhof und unserem Hotel liegen 32 Höhenmeter, das hätte ich gern vor der Buchung gewusst. Aber hinunter zur Stadt rollen die Fahrräder fast von allein. Überhaupt ist Lund ein Beispiel, wie menschenfreundlich Zivilisation sein kann: Fahrradstraßen, beschilderte Routen, eigene Ampeln und überall Zebrastreifen.

Der Dom ist seltsam geformt, langgestreckt und flach. Die beiden Türme werden gerade abgebaut. Mittags stehen alle vor der astronomischen Uhr und schauen den Heiligen zu, die einmal im Kreis laufen. Die Kerzen können noch immer mit Bargeld bezahlt werden, ich zünde eine an, für mich selbst. Wir haben einen Beutel voller Münzen, die reichen für eine Menge schwedischer Kirchen.

Die halbe Stadt besteht aus der Universität und weil Semesterferien sind, sieht sie wie ein Freiluftmuseum aus. Außerdem ist so genug Platz auf den Radwegen, kein Grund zur Klage.

In einem Hochhaus wohnen. Aus dem Fenster im Treppenhaus ist Malmö zu sehen.

Am heißesten Tag der Woche fahren wir bis nach Lomma und baden im Öresund. Das Wasser ist lange flach, aber erstaunlich kalt und klar. Am Horizont schwebt die Brücke nach Kopenhagen hinüber.

Im Bahnhof gibt es keinen Schalter und selbst die Fahrkartenautomaten benutzt außer uns niemand mehr. Der Zug nach Ystad braucht nur eine Stunde und von dort fährt das Boot zurück nach Rügen. Wie nahe alles ist.

Im Führerstand

Der Zug nach Velgast fährt erst in zehn Minuten und der Lokführer kommt auf den Bahnsteig, um zu rauchen. „Drinnen ist es noch wärmer als draußen“, sagt er und ich stelle mich zu ihm. „Ohne Sie können wir ja nicht abfahren.“ Wir kommen ins Gespräch, über den alten Barther Bahnhof, den Güterbahnhof, die Elektrifizierung der Strecke in den achtziger Jahren, den Abbau der Elektrifizierung in den neunziger Jahren, über den alten Fahrplan mit den Fernzügen nach Erfurt und mit dem Ferkeltaxi nach Velgast am Freitagnachmittag, über die Darßbahn. „Die Militärzüge nach Bresewitz bin ich noch gefahren.“

Wir steigen ein und als ich mich hinsetzen will, winkt er mich nach vorn: Führerstandsmitfahrt, das erste Mal in meinem Leben. Ich versuche meine Aufregung zu verbergen und lasse ihn erzählen, über die Reste der alten Waschanlage neben den Gleisen, den Wasserturm in Velgast (letzter Einsatz einer Dampflok etwa 1982), den Kenzer Berg („Die Strecke war nur für 50 km/h zugelassen, aber mit dem Güterzug musste man Anlauf nehmen, wir sind das damals mit der Mütze auf dem Tacho gefahren“), das Essen in der Barther Mitropa („60 Pfennig mit Essenmarke“), über die Tiere an der Strecke, die Rehe am Waldrand, den Dachs, die Wildschweine, das von der Sonne aufgewärmte Gleisbett, das die Wildtiere mögen. Als es zu regnen beginnt, fährt er langsamer. „Wenn es nass wird, löst sich der Rost und dann rutscht der Zug beim Bremsen, der hat dann soviel Widerstand wie eine Gurke, die durch den Gurkenhobel rauscht.“

Dann sind wir schon da, ich muss in Velgast umsteigen. Beim Aussteigen bin ich wieder zwölf Jahre alt.