Kategorie: Weblog

Eine Arbeit aus Sprache

Meine Arbeit ist eine Welt aus Zeichen. Meine Arbeit besteht vollständig aus Sprache. Meine Arbeit besteht aus Akten voller Texte. Digitale Akten, Papierakten. Es gibt in dieser Welt Schriftsätze, Verfügungen, Formulare, Protokolle, Vermerke. Es gibt Gesetze. Es gibt Handbücher und Kommentare. Es gibt Zeitschriften und Aufsätze. Es gibt Datenbanken. Fast alles in meiner Arbeit vollzieht sich schriftlich und was nicht schriftlich geschieht, wird aufgeschrieben, verschriftlicht, zu Schrift gemacht. Nur manchmal höre ich jemandem zu, ab und an diktiere ich etwas und ganz selten rede ich auch. Aber meistens lese und schreibe ich und am Ende meiner Arbeit füge ich diesem riesigen Kosmos einen eigenen Text hinzu. Meine Arbeit findet in einem System statt, das sich immer weiter ausdehnt, an Komplexität zunimmt, unüberschaubar wird.

Dabei ist das Recht eine simple Konstruktion. Keine Wissenschaft, sondern eine Technik. Eine Möglichkeit, sich der Außenwelt anzunähern und sie operabel zu machen, einer Welt, die ihrerseits unüberschaubar und chaotisch ist. Alles Recht funktioniert als eine Gleichung. Wenn A dann X. Wenn B dann Y. Wenn C und nicht A dann Y oder Z. So etwas in der Art. Diese Konstruktionen nennt man Rechtssätze. Ein Tatbestand (A, B, C) führt zu einer Rechtsfolge (X, Y, Z). Die meisten Rechtssätze sind Inhalt von Gesetzen, die von den Parlamenten und Verwaltungen geschrieben werden, aber es gibt auch Rechtssätze, die von den Gerichten selbst aufgestellt werden, eine ganze Menge sogar, wenn ich länger darüber nachdenke. Im besten Fall befinden sich all diese Rechtssätze in einem widerspruchsfreien Verhältnis zueinander und bilden ein kohärentes System, aber es ist sehr leicht zu ahnen, dass das nicht überall gelingen kann.

Wenn Rechtsanwender auf die äußere Welt schauen, suchen sie nach Dingen, die nach A, B und C aussehen, und nicht nach D, E und F. Sie unterscheiden zwischen bedeutsam (erheblich) und irrelevant (unerheblich). Sie ebnen die Realität ein, die vielgestaltig und nicht zu erfassen ist und machen sie handhabbar. Sie machen die Welt zweidimensional, sie formen die Welt zu einem Text. Sie produzieren die Variablen einer Gleichung: A, B und C. Das ist Jura. Es ist ganz einfach.

Was uns vollkommen normal vorkommt, ist eigentlich eine seltsame Sache. Wir schaffen mit unseren juristischen Texten eine eigene Realität, auch wenn wir das nicht so deutlich sagen. Wir verwischen diese Mechanik mit Sprache. Wir formulieren, dass wir eine Tatsache A feststellen, dass wir zu einer Annahme B kommen, dass wie die Überzeugung gewinnen konnten, dass C vorliegt. Auf diese Weise klingt es besser, als es eigentlich ist, aber anders funktionieren Gleichungen nun mal nicht. Wir müssen mit Unsicherheit in der Außenwelt umgehen. Die Texte, die wir über diese Welt lesen, können wahr oder unwahr sein. Die Angaben, die die Parteien im Prozess machen, können wahr oder unwahr sein. Wir wissen es nicht und manchmal wissen es noch nicht einmal die Parteien selbst. In einem Gerichtsverfahren arbeiten alle mit denselben Texten. Alle lesen dasselbe, alle hören dasselbe. Jeder versteht etwas anderes. Trotzdem müssen die Variablen am Ende aufgelöst werden. Jeder Fall muss ein Ergebnis haben.

Ich begreife meine Arbeit nicht richtig. Ich fasse nichts an, ich verändere nichts, ich stelle nichts her. Die physikalische Welt besteht unabhängig von mir. Ich mache nichts anderes, als eine Welt aus Zeichen zu vergrößern. Jeden Tag wundere ich mich, dass mich andere Menschen dafür anstellen und damit einverstanden sind, dass ich ihre Gleichungen löse.

Anmerkung

Das ist mein diesjähriger Beitrag zur schaltjährlich erscheinenden Zeitschrift Veel 20, die von meinem Freund Holger Blauhut herausgegeben wird. Danke dafür, dass ich wieder dabei sein durfte.

Neue Musik 2023

Man soll ja nicht nur in der Vergangenheit leben. Diesen weisen Ratschlag beherzige ich seit einigen Jahren und höre seitdem wieder neue Musik. Hier sind die Alben, die in diesem Jahr erschienen und Teil meiner Sammlung geworden sind, in chronologischer Reihenfolge des Erwerbs.

1. Element of Crime: Morgens um vier

Ich bin so alt, ich kenne die Band noch aus der Zeit, in der sie englische Texte hatte. Im Grunde haben sie genau einen Song, aber in hunderten wunderbaren Variationen. Außerdem habe ich in diesem Jahr wieder einmal ein Konzert von ihnen gesehen.

2. Håkan Hellström: Poetiska försök

Die Platte habe ich aus Göteborg mitgebracht. Håkan Hellström muss man einfach lieben. Für seine Songs bedient er sich reichlich in der Musikgeschichte, der Sound ist unverkennbar und das Schwedisch ist einfach schön: Och vem vill vara din vän / När du har tappat glansen. In Schweden ist Hellström ein Superstar und wir haben ihn auch schon gesehen, direkt vor uns, aber das ist eine andere Geschichte.

3. Sam Burton: Dear Departed

Einmalig warme Westküstenmusik, aber leider bin ich beim Hören noch immer befangen, seitdem ich mit dem Musiker auf Instagram ein paar Nachrichten über ein politisches Thema gewechselt habe (immerhin hat er mir ausführlich geantwortet). Ich hoffe, das ändert sich wieder, weil ich seine Musik sehr liebe. Gelernt: Besser keinen Musikern auf Social Media folgen oder wenigstens ihre Instagram-Stories auslassen.

4. Blur: The Ballad of Darren

Gut zu sehen, dass eine Band auch in Würde alt werden kann. Mein erstes Album von Blur.

5. Spencer Collum’s Coin Collection 2

Kingdom Weather gehört und unmittelbar darauf Spencer Collum’s Coin Collection 1 bestellt, auf der der Song aber gar nicht ist. Jetzt habe ich beide Platten von ihm, noch besser. Spencer Cullum ist ein Brite, der als Studiomusiker in Nashville Pedal Steel spielt und auf einmal seine eigenen Songs herausbringt.

6. Ringo Starr: Rewind Forward

Ringo macht seit drei Jahren nur noch EPs, ich mag das Format. Das ist die vierte EP, die aus dieser Reihe musikalisch am interessantesten ist, wenn nicht das Thema Auto-Tune überdeutlich wäre. Aber solange er noch selbst trommelt, ist alles gut.

7. The Beatles: Now and Then

Ganz klar die aufregendste Veröffentlichung des Jahres für mich. Das Demo von John Lennon war ja allgemein bekannt und beim ersten Hören des fertigen Songs stellte sich etwas Enttäuschung ein, weil Paul McCartney Johns Bridge einfach weggelassen hatte. Aber inzwischen habe ich meinen Frieden mit der Single gemacht, die eine Zeitreise von 1979 über 1995 bis nach 2022 ist. Es ist fantastisch, John noch einmal klar und deutlich zu hören. Und warum sollte ein Beatles-Song von 2022 nicht so produziert werden, wie heute Musik produziert wird?

8. Anna St. Louis: In The Air

Ganz sicher das Album, das ich in diesem Jahr am meisten gehört habe. Wunderbare Harmonien, warme Produktion, sonnige Westküste. Lieblingslied: Rest

9. The Lemon Twigs: Everything Harmony

Wenn wir gerade bei Harmonien sind. Als ich die Platte auf den Tresen legte, sagte der Verkäufer aus dem Laden in der Leipziger Südstadt, endlich kauft die mal jemand, die steht schon seit Wochen im Regal und dabei ist die so schön, und ich kann ihm aus vollem Herzen zustimmen.

10. Slow Leaves: Meantime

Ich erkenne ein Muster.

11. Roger Joseph Manning Jr.: Radio Daze & Clamping

Roger Manning war die eine Hälfte von Jellyfish. Wenn ich mir Andy Sturmer hinzudenke, kommen mir die Tränen. Aber besser als nichts.

12. Sufjan Stevens: Javelin

Dieses Album habe ich zu Weihnachten zugleich verschenkt und geschenkt bekommen, was ein gutes Zeichen ist. Ich kannte Stevens bis vor vier Wochen noch nicht. Ich stehe noch ganz am Anfang.

13. Peter Gabriel: I/O

Im Sommer auf der Waldbühne gesehen, die Platte zum Konzert war noch ein Weihnachtsgeschenk.

Ende Oktober

Im Museumshafen liegt ein Schiff, das mit dem Beginn des Krieges im letzten Jahr eine sowjetische und eine russische Fahne gehisst hatte. Die rote Fahne ist inzwischen verschwunden, dafür gibt es jetzt eine palästinensische. Die DDR ist zurück, diesmal als Farce: Deutsch-Sowjetische Freundschaft, Kleine weiße Friedenstaube, Yassir Arafat, US-Imperialismus. Als Nächstes kommen wahrscheinlich Blauhemden und Fackelmärsche. Obwohl, Fackelmärsche gab es ja neulich schon.

Wer weiß, vielleicht ist so ein abgeschlossener, ethnisch homogener deutscher Nationalstaat inzwischen wieder mehrheitsfähig, zuzüglich Wohlstand und Ferienflieger natürlich. Das Wohlstandsversprechen von 1990 ist endlich eingelöst worden und jetzt stellen es Pandemie, Klima und Krieg infrage und alles gerät ins Rutschen.

Das ist eine Assoziation und keine Analyse, ich habe doch auch keine Ahnung. Es gibt zwei Sachen, über die ich einigermaßen Bescheid weiß: Schach und Asylrecht. Aber mein Schach wird mit jedem Jahr schlechter, nichts da mit Routine und Altersweisheit. Und über das Asylrecht will niemand etwas wissen.

Ein endloser Sommer voller meteorologischer Rekorde. Im Oktober kommt endlich der Herbst. Der Sturm trägt den Geruch von Salzwasser in die Stadt.

Zeitreise im Wartezimmer, Maske und Impfungen.

Der Tischler hat mir ein Regal für meine Schallplatten gebaut. Übermorgen erscheint endlich Now and Then. Sie sind jetzt den ganzen Weg gegangen.