Es hatte sich schon sanft angedeutet: In Stralsund-Grünhufe war ein Junge eingestiegen, der eine Fahrkarte nach Kenz lösen wollte. Wohin wollen Sie? – Nach Kenz. – Nach Kenz? – Ja. Das war wohl schon länger nicht mehr vorgekommen und vielleicht ist Kenz deshalb seit dem letzten Fahrplanwechsel nur noch ein Bedarfshaltepunkt. Kurz vor Kenz kommt nun eine Lautsprecherdurchsage, in der alle Reisenden, die dort aussteigen wollen, aufgefordert werden, die Haltewunschtaste zu betätigen. Weil diese Taste gar nicht so einfach zu finden ist, fragte der Junge den Schaffner danach. Der Schaffner zeigte es ihm und drückte zur Sicherheit auch selbst darauf. Der Junge ging zum Ausgang, der Zug verlangsamte seine Fahrt, der Junge machte sich bereit, der Zug erreichte den Bahnsteig, der Zug rollte langsam daran vorbei, der Zug hielt nicht an. Halt!, rief der Junge und rannte zum Zugführer. Ich will hier aussteigen! Sie sprachen noch eine Weile leise miteinander, der Zug beschleunigte nicht, aber er fuhr weiter bis nach Barth. Nun liegt der alte Wallfahrtsort Kenz nicht besonders weit von Barth entfernt, aber wenn man darauf achtet, ist es doch ein ganzes Stück. Der Junge blieb im Zug sitzen und wartete auf die Rückfahrt.
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Älghult
An unserem Weihnachtsbaum hängt nur eine einzige Weihnachtskugel. Sie wird jedes Jahr im Januar wieder sorgfältig in Zeitungspapier gewickelt und zurück auf den Boden gebracht. Die Kugel habe ich vor vielen Jahren in einer stillgelegten Fabrikhalle in Älghult gekauft. Die Fabrikhalle war das, was von der Glashütte in Älghult noch übrig war und im Jahr danach gab es noch nicht einmal mehr die Fabrikhalle. So wertvoll ist also die Weihnachtskugel.
Älghult liegt mitten in smålandischen Wald irgendwo auf halben Weg zwischen Växjö und Kalmar. Wir waren dort mehrere Sommer lang zelten. Der Zeltplatz ist der kleinste Zeltplatz der Welt, eigentlich eine Badestelle mit Kiosk. Wenn man Glück hat, findet man einen Platz auf dem Hügel und guckt direkt auf den See. Im Häuschen gibt es ein Klo und eine Dusche, draußen eine Waschstelle mit kaltem Wasser. Es gibt also alles, was man braucht. Im Ort sind ein Konsum und eine Telefonzelle und ein paar Läden, bei denen man nicht weiß, ob sie noch geöffnet sind oder ob nur niemand in den letzten zehn Jahren die Dekoration aus dem Schaufenster geräumt hat. Vom Zeltplatz sind es vielleicht zwanzig Minuten bis in den Ort, vorbei an der Kirche, der Schule, dem Altenheim und der Kleiderkammer vom Roten Kreuz. Nachts rauschen die Holztransporter durch den Ort, die Straße muss eine Abkürzung sein, wohin auch immer.
Das alles geht mir durch den Kopf, wenn ich die blaue Kugel in den Händen halte. Hast du auch einen Lieblingsplatz?
Im November
Unruhe wegen eines Freundes, von dem ich seit vielen Jahren nichts mehr gehört habe. Ich gehe zu dem Haus, in dem seine Familie längst nicht mehr wohnt. Aber unter dem Dach ist Licht. Als ich an der Tür klingele, öffnet sein Bruder. So lange hätte ich mich nicht gemeldet und nun sei es auch zu spät. Er macht mir Vorwürfe, mir fehlen die Argumente. Aufgewacht.
Auf der Straße eine 20-Cent-Münze gefunden, es glänzte in der Sonne wie Goldstück. Das soll mir Glück bringen.
Im Büro stehen Änderungen bevor. Es wird auch höchste Zeit. Mir fehlt inzwischen die Kraft für Auseinandersetzungen, die zu nichts führen können. Auch eine Sache, die sich verändert hat: Ich will mich um so etwas nicht mehr kümmern oder ich kann es nicht mehr, eins von beiden.
Unbeantwortete Mails, nicht erledigte Anrufe, steckengebliebene Kommunikationen. Ich bin so schlecht in diesen Dingen, ich schaffe es noch nicht einmal, meine Freundschaften zu pflegen.
Ich vernehme eine Psychologin als Zeugin. Beim Rausgehen wünscht sie mir Alles Gute! Respekt, ich fühle mich durchschaut.
Alle in der Klinik bekamen einmal während ihres Aufenthalts den Chefarzt zu sehen. Er stellte sich vor den Saal, verdunkelte das Licht, streckte die Hände aus und sagte Ich möchte Sie trösten. Es erschien uns noch nicht einmal unpassend. Am Ende liefen seine Ratschläge auf zwei Sachen hinaus: Entspannung und dreimal in der Woche schwitzen. Wir gehen also wieder in die Muckibude. Ich sitze auf dem Ergometer, fahre 100 Watt und hoffe, dass ich es überstehe. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Es ist wie beim Baden im Sommer – ich habe keine Freude daran und bin froh, wenn ich wieder aus dem Wasser bin. Aber immerhin gehe ich rein.
Zweimal im Theater, Hamlet und Hamletmaschine. Zu meiner Überraschung ist es voll, wie vor dreißig Jahren. Liebe Theaterleute, vertraut doch einfach auf den Text. Der Rest ergibt sich dann von selbst.
Ich werde ihm noch einmal schreiben.