Autor: Stefan

Unter Skatspielern

Einmal im Monat bin ich auf einem Skatturnier auf dem Dorf. Es ist schwierig, Skat zu spielen, wenn man nicht besonders gut Skat spielen kann. Skatspieler können ziemlich unangenehm werden, wenn man Fehler macht. Aber bei dieser Runde ist es nicht so, die Leute sind ausgesprochen freundlich und entspannt. Das Durchschnittsalter liegt etwa bei 70, Frauen gibt es nur hinter dem Tresen des Vereinsheims. Das Bier kostet 2,10 Euro, eine Knacker mit Bohnensalat und einem halben, diagonal-geschnittenen Toast 2,30 Euro und jedes verlorene Spiel 50 Cent. Wer im letzten Monat Geburtstag hatte, gibt eine Saalrunde aus und wenn jemand im letzten Monat gestorben ist, gibt es eine Schweigeminute. Die Ergebnisse werden per Hand zusammengerechnet und mit Kugelschreiber auf einem überdimensionierten Blatt eingetragen, das anschließend sorgfältig zusammengefaltet wird. So eine Runde ist das.

Ich kann nicht viel reden. Ich muss meistens aufschreiben, weil ich die besten Augen habe, und ich muss mich auf meine Karten konzentrieren. Ich höre zu. Die Männer reden über die Gaspreise, über das Gemüse im Garten und die Trockenheit, über Reparaturen an ihren Häusern, über den Krieg, über ihre Kinder in Hamburg, über die Ausländer, über die Inflation, über den Wolf. Alle haben ihr Leben lang gearbeitet und es ist unfassbar, an welche Geschichten sie inzwischen glauben. Sie leben in einer Welt, für die es keine politischen Angebote mehr gibt.

In der letzten Woche habe ich den 3. Platz gemacht und 4,50 Euro gewonnen. Das Startgeld sind 7 Euro, 6 Euro gehen in die Jahreswertung. Bei diesem Blatt bekam ich in Mittelhand 23 geboten, die ich hielt. Ich traute mich nicht, für einen Grand in den Skat zu gucken und spielte Pik Hand. Eine meiner Schwächen besteht darin, dass ich auf die Schnelle oft keinen Grand erkennen kann und lieber Farbe spiele (ich bin mir aber noch immer nicht sicher, wie vernünftig hier eine Grandreizung gewesen wäre). Am Ende lag der Kreuzbube im Skat.

Eine Arbeit aus Sprache

Meine Arbeit ist eine Welt aus Zeichen. Meine Arbeit besteht vollständig aus Sprache. Meine Arbeit besteht aus Akten voller Texte. Digitale Akten, Papierakten. Es gibt in dieser Welt Schriftsätze, Verfügungen, Formulare, Protokolle, Vermerke. Es gibt Gesetze. Es gibt Handbücher und Kommentare. Es gibt Zeitschriften und Aufsätze. Es gibt Datenbanken. Fast alles in meiner Arbeit vollzieht sich schriftlich und was nicht schriftlich geschieht, wird aufgeschrieben, verschriftlicht, zu Schrift gemacht. Nur manchmal höre ich jemandem zu, ab und an diktiere ich etwas und ganz selten rede ich auch. Aber meistens lese und schreibe ich und am Ende meiner Arbeit füge ich diesem riesigen Kosmos einen eigenen Text hinzu. Meine Arbeit findet in einem System statt, das sich immer weiter ausdehnt, an Komplexität zunimmt, unüberschaubar wird.

Dabei ist das Recht eine simple Konstruktion. Keine Wissenschaft, sondern eine Technik. Eine Möglichkeit, sich der Außenwelt anzunähern und sie operabel zu machen, einer Welt, die ihrerseits unüberschaubar und chaotisch ist. Alles Recht funktioniert als eine Gleichung. Wenn A dann X. Wenn B dann Y. Wenn C und nicht A dann Y oder Z. So etwas in der Art. Diese Konstruktionen nennt man Rechtssätze. Ein Tatbestand (A, B, C) führt zu einer Rechtsfolge (X, Y, Z). Die meisten Rechtssätze sind Inhalt von Gesetzen, die von den Parlamenten und Verwaltungen geschrieben werden, aber es gibt auch Rechtssätze, die von den Gerichten selbst aufgestellt werden, eine ganze Menge sogar, wenn ich länger darüber nachdenke. Im besten Fall befinden sich all diese Rechtssätze in einem widerspruchsfreien Verhältnis zueinander und bilden ein kohärentes System, aber es ist sehr leicht zu ahnen, dass das nicht überall gelingen kann.

Wenn Rechtsanwender auf die äußere Welt schauen, suchen sie nach Dingen, die nach A, B und C aussehen, und nicht nach D, E und F. Sie unterscheiden zwischen bedeutsam (erheblich) und irrelevant (unerheblich). Sie ebnen die Realität ein, die vielgestaltig und nicht zu erfassen ist und machen sie handhabbar. Sie machen die Welt zweidimensional, sie formen die Welt zu einem Text. Sie produzieren die Variablen einer Gleichung: A, B und C. Das ist Jura. Es ist ganz einfach.

Was uns vollkommen normal vorkommt, ist eigentlich eine seltsame Sache. Wir schaffen mit unseren juristischen Texten eine eigene Realität, auch wenn wir das nicht so deutlich sagen. Wir verwischen diese Mechanik mit Sprache. Wir formulieren, dass wir eine Tatsache A feststellen, dass wir zu einer Annahme B kommen, dass wie die Überzeugung gewinnen konnten, dass C vorliegt. Auf diese Weise klingt es besser, als es eigentlich ist, aber anders funktionieren Gleichungen nun mal nicht. Wir müssen mit Unsicherheit in der Außenwelt umgehen. Die Texte, die wir über diese Welt lesen, können wahr oder unwahr sein. Die Angaben, die die Parteien im Prozess machen, können wahr oder unwahr sein. Wir wissen es nicht und manchmal wissen es noch nicht einmal die Parteien selbst. In einem Gerichtsverfahren arbeiten alle mit denselben Texten. Alle lesen dasselbe, alle hören dasselbe. Jeder versteht etwas anderes. Trotzdem müssen die Variablen am Ende aufgelöst werden. Jeder Fall muss ein Ergebnis haben.

Ich begreife meine Arbeit nicht richtig. Ich fasse nichts an, ich verändere nichts, ich stelle nichts her. Die physikalische Welt besteht unabhängig von mir. Ich mache nichts anderes, als eine Welt aus Zeichen zu vergrößern. Jeden Tag wundere ich mich, dass mich andere Menschen dafür anstellen und damit einverstanden sind, dass ich ihre Gleichungen löse.

Anmerkung

Das ist mein diesjähriger Beitrag zur schaltjährlich erscheinenden Zeitschrift Veel 20, die von meinem Freund Holger Blauhut herausgegeben wird. Danke dafür, dass ich wieder dabei sein durfte.

Zoë Beck: Memoria. Alle paar Wochen kommt T. vorbei und holt sich die Zeitung ab. Deshalb schneide ich die Buchrezensionen, die mich interessieren, nicht mehr aus, sondern fotografiere sie ab. Ich weiß nicht, wie lange dieser Workflow noch funktionieren wird. Die Zustellung der Zeitung wird immer unzuverlässiger. Für eine Zeitung, die nur an zwei von drei Tagen im Briefkasten liegt, ist das Abonnement ziemlich teuer. Vielleicht sollte ich lieber digital lesen, aber dafür fehlt mir ein vernünftiges Endgerät und die Weitergabe wird auch problematisch. Jedenfalls habe ich das neue Buch von Zoë Beck nicht gefunden und musste im Laden unter Zuhilfenahme der fotografierten Rezension danach fragen. Es stand nicht unter Science Fiction, sondern unter Spannung, damit hatte ich nicht gerechnet.