Autor: Stefan

Bücher

In unserem Viertel gibt es jedes Jahr einen Stadtteilflohmarkt. Die Leute bauen vor ihrem Haus einen Tisch mit ihren Sachen auf und setzen sich dahinter. In unserem kleinen Literaturhaus im Viertel gibt es dann immer einen Bücherflohmarkt. Die Leute können in den Wochen davor zu uns kommen und alle Bücher abgeben, die sie nicht mehr haben wollen. Alles, was reinkommt, ordnen wir ein bisschen, packen es in Pappkartons und stellen es in den Garten. Den größten Schrott sortieren wir vorher aus. Alle Einnahmen gehen an das Literaturhaus, gemeinnützig, kein Gewinn, wie das so ist. Mit Lesungen und einer Galerie kann niemand Geld verdienen.

Aber die gute Tat kommt hinterher. Alle Bücher, die niemand haben wollte (das sind die meisten), stellen wir neben die Eingangstür. Am nächsten Morgen kommt ein Trupp von der Diakonie und nimmt sie mit. Sie trennen den Einband vom Buchblock und recyceln das Papier. Ich glaube, sie bekommen sogar etwas Geld dafür. Die Leute von der Diakonie sind meine Helden. Sie tun das, was keiner tun will: Sie werfen Bücher weg. Sie erhöhen die Ordnung. Sie reduzieren Entropie. Sie befreien die Leute von Dingen, die sie nicht mehr haben wollen, die aber noch mit Sinn aufgeladen sind. Leute, die denken, dass es bestimmt noch jemanden gibt, der das 21-bändige Lexikon mit dem Stand von 1992, leicht angestoßen, gebrauchen kann und der zu Hause genug Platz im Regal hat. Aber die Leute hatten den ganzen Nachmittag Zeit, das Lexikon abzuholen, und wer kein Geld hatte, musste auch nichts bezahlen. Niemand wollte es mitnehmen. Jetzt kommt es weg.

Wir sollten ein Plakat aufhängen: Alle Bücher, die heute nicht verkauft werden, landen morgen im Papiercontainer. Aber das machen wir nicht. Wir arbeiten nicht mit dem schlechten Gewissen der Leute, das wäre nicht fair. Die Leute denken wahrscheinlich, wir räumen abends alle Bücher auf den Dachboden unseres kleinen Literaturhauses oder in den Bücherbaum an der Europakreuzung oder ins Sozialkaufhaus oder in die Bücherscheune. Irgendwohin, wo sie gebraucht werden. Meinetwegen.

Als ich abends nach Hause ging, hatte ich einen kleinen Karton unter dem Arm, halb voll.

Am Anfang des Sommers

Eine Sache mit dem Klimawandel ist das Ende der Jahreszeiten, wie ich sie früher kannte. Der Winter ist ein endloser Herbst, der übergangslos von einem feuchten heißen Sommer abgelöst wird. Heute war ich zum ersten Mal in diesem Jahr in der Ostsee, die im Mai so viel Sonne abbekommen hat, dass sie warm und trüb war wie in einem Juli meiner Kindheit. Im August wird das Meer wahrscheinlich abgestanden und voller Quallen sein. Aber in den Sommerferien wird es sowieso schwer, nach Usedom zu kommen. Im Sommer brauchen wir ein Versteck.

Auf dem Weg lagen frische Tannenzapfen.

Die Berge auf Usedom markieren meinen körperlichen Zustand. In guten Jahren fahre ich alle hinauf, in schlechten Jahren schiebe ich das Rad. Heute etwa die Hälfte geschoben, das war ganz gut.

Jede Reise muss ein Ziel haben. In Swinemünde haben wir an der Promenade Schaschlik gegessen. Ohne Paprika, aber mit eingelegter Gurke. Der Mann am Grill hat mehrmals nachgefragt, ob mein Bier wirklich alkoholfrei sein soll.

Im Dreizehnten Stock ist noch kein Sommer.

Die Kinder warfen Kastanien in die Luft, die Charles geschickt aufschnappte, dann liefen sie weiter den Parkweg entlang und Martin dachte daran, dass er ja selbst erleben konnte, wie es diesen Kindern später erging, dass es von nun an keine Generationen mehr geben würde, aber dafür eine große Menschenfamilie, die, wenn sie das wollte, für immer zusammenblieb. Dieser Gedanke rührte ihn, er rief Charles zu sich, kraulte ihm das weiche Nackenfell und betrachtete die mächtigen Eichen, die den Parkweg säumten. Diese Bäume waren mindestens zweihundert Jahre alt, sie hatten schon hier gestanden, bevor die elektrische Glühlampe, das Telefon oder das Auto erfunden worden waren. Frauen in Reifröcken und Männer mit Zylindern waren an diesen Bäumen entlangflaniert, an diesen Wächtern der Zeit, deren Bruder er nun geworden war.

Martin Leo skizziert in Wir werden jung sein den Übergang in eine Welt, in der die Alterung der Zellen und damit das Altern des Menschen medizinisch aufgehalten werden kann. Eine Gesellschaft ohne Tod wäre eine Dystopie, aber immerhin würden Zeitreisen in die Zukunft möglich, wenn man unter diesen Bedingungen überhaupt noch von Zukunft sprechen kann. Die Bäume verraten leider nicht, wie das ist.