Monat: April 2020

#162

Alle Reisen in das Gebiet des Landes Mecklenburg-Vorpommern sind untersagt gilt für uns nicht, wir sind schon da.

Der Wind hat sich gelegt und die Sonne scheint so sehr, dass man nach einem Schattenplatz suchen möchte. Ich habe Usedom noch nie so leer gesehen. Nicht mal an einem verregneten Novembermorgen ist Zinnowitz so leer wie heute. Die Geschäfte sind wieder geöffnet, die Inhaber stehen davor und warten vergeblich auf Kunden. Die Einheimischen brauchen keine Outdoorjacken.

Die Ferienanlagen stehen leer, auf den Campingplätzen sind nur ein paar heimliche Besucher. Vor einem Ferienhaus in Karlshagen steht ein Auto mit Wolfsburger Kennzeichen. In der Windschutzscheibe liegt ein großer Zettel: Der Halter des Fahrzeugs mit dem amtlichen Kennzeichen WOB … hat seinen Erstwohnsitz gemäß § 4 Absatz 2 SARS-CoV-2-Bekämpfungsverordnung im Landkreis Vorpommern-Greifswald. Datum, Unterschrift, Stempel.

Je weiter wir nach Norden kommen, desto seltener treffen wir andere Fahrradfahrer. Alle grüßen sich. Wir sind alle Teilnehmer einer großen Expedition. Wir sind unter uns. Das hat es noch nie gegeben.

Es muss mal wieder regnen. Die Insel ist trocken wie ein Schwamm. Sie wird alles aufsaugen, den Regen und die Touristen. Wahrscheinlich werden die Touristen zuerst kommen.

Jede Reise muss ein Ziel haben. Wir sitzen am Hafenbecken von Peenemünde und essen die Sachen, die wir mitgebracht haben.

Auf der Rückfahrt steht hinter Buddenhagen ein Sprung Rehe direkt am Bahngleis. Über ein Dutzend Tiere, sie sind ganz nahe herangekommen und gucken neugierig in unseren Wagen, der langsam beschleunigt.

#161

Die Arbeitskollegin, die von ihrem Schwiegervater erzählt. Sie wohnen auf dem Dorf, zusammen in einem großen Haus, drei Generationen unter einem Dach.

Sie arbeitet von frühmorgens bis mittags, dann fährt sie eine Stunde nach lang nach Hause, um ihre Schwiegermutter abzulösen, die jetzt ihren Schwiegervater und den fünfjährigen Enkel zugleich betreut. Ihr Mann muss ganztags arbeiten und nimmt nach und nach seinen Jahresurlaub, um die Situation beherrschbar zu halten. Da nicht beide Eltern systemrelevant sind, gibt es keine Notbetreuung im Kindergarten.

Die Schwiegereltern sind beide über 80, sie nehmen die Situation sehr ernst. Keine Besuche, kein Einkaufen, sie bleiben auf dem Grundstück. Sie sehen auch ihre anderen beiden Söhne nicht. Der Schwiegervater sitzt auf seinem Stuhl im Garten und stellt sich vor, dass er seine Söhne nicht an der Haustür klingeln hört, anders kann er es sich nicht erklären, dass sie ihn nicht besuchen, die wären doch schon längst mal vorbeigekommen.

Falls ihr Helden sucht, hier sind welche.

Im Tunnel

[etwa Tag 35]

Sind wir noch im Tunnel?

Ich habe den Kontakt zur Zentrale verloren. Die JUSTICE treibt in diesem Gebilde, von dem wir nicht wissen, wohin es führt und wie groß es ist. Sie sagen, dass wir die Fahrt am schnellsten hinter uns bringen, indem wir uns nicht bewegen. Aber heute Nacht habe ein Brummen gehört, ein leichtes Vibrieren hinter der Kabinenwand, so als ob der Antrieb wirklich Geräusche machen würde, so wie die Schiffsmotoren in den alten Filmen, die neuerdings wieder im Holo-Strom gezeigt werden. A. weiß alles über diese Filme, aber er hat jetzt sicher keine Zeit dafür, weil er den Edu-Server am Laufen halten muss. Die Hypnoschulungen fallen aus, es soll irgendein Hygieneproblem geben, so dass die Kinder jetzt tagsüber präsent unterrichtet werden müssen, wie ganz früher. Zum Glück wirft A. nichts weg und konnte aus irgendeiner Rumpelkammer einen physikalischen Serverblock herbeizaubern. Lange Gesichter bei den Kids natürlich.

Es muss an die zwei Wochen her sein, als ich mich das letzte Mal in der Zentrale habe blicken lassen. Vorgestern kam ein Memo, ich habe es ignoriert und seitdem nichts mehr gehört. Sie haben sogar ein Audiosignal in meine Kabine geschaltet, aber ich verbinde mich nicht. Wenn sie Ärger machen wollen, kann ich mich immer damit rausreden, dass die veraltete Komm-Technik Zicken macht. Glaubt jeder sofort. Aber wahrscheinlich laufen in der Zentrale auch nur noch die Routinen des Autopiloten.

Ab und zu meldet sich DM aus dem Med-Punkt. Sie haben sich verbarrikadiert, es kommt niemand mehr rein oder raus. Die Kinder haben sie mitgenommen. Die Wände sind 30 Zentimeter blanker Titanstahl, keine Chance für den Edu-Server. Aber was sollten sie machen. DM hat angeblich Kontakt zur Schiffsführung, es soll ein Zelt vor dem Med-Punkt geben, das F-Zentrum, aber das glaube ich nicht. Wenn sich die Schiffsführung auf das Holo schaltet, sind das Aufzeichnungen, mindestens einen Monat alt. Captain Cor hat auf den Bildern noch kurze Haare, lächerlich. Lauter Amateure in der Agit-Abteilung.

Gestern noch ein Memo von Lt. Hulot aufgefangen, unvollständig. Die Relaiskette ist nicht gerade die Technik, auf die man sich in dieser Situation verlassen will, aber besser als gar nichts. Ich meine, damit haben schon die Russen den Mond besiedelt, falls jemand noch weiß, wo der ist. Immerhin funktioniert die Kette stundenweise, alles andere ist längst offline. Hulot ist jedenfalls stinksauer. Sein Flottenkommando hat ein Update auf das Handbuch für Außeneinsätze geladen und jetzt soll auf einmal seine Ausrüstung nicht mehr genügen. Also, der Mann hat schon mal dreißig Sekunden im freien All überlebt, kurz nach dieser Offworld-Sache, von der niemand mehr reden will und jetzt wollen sie ihn nicht mehr vor die Tür lassen? Alles Sesselfurzer, die noch nicht mal einen simplen Quarzantrieb in Gang bringen könnten, sagt er, und das ist noch sehr milde ausgedrückt. Jedenfalls ist er erstmal verschwunden, der Fähnrich hat mir gesteckt, dass Hulot vor dem Abflug in einem leeren Beiboot-Hangar einen Meter Muttererde aufgeschüttet haben soll, am Flottenkommando vorbei, wie auch immer. Auf dem Kontroll-Holo ist dort nur ein undeutliches Wabern zu erkennen. Ich nehme an, dass er da gerade eine Gartenlaube hochzieht.

Im Trivia-Holo wird neuerdings erzählt, dass es den Tunnel gar nicht gibt. Die Zentrale will nämlich …

[Kal’Orn Ende]