Monat: Dezember 2017

#075

Wißt ihr, was ich manchmal denke, ich denke manchmal, das ist ein Museum hier, dieses ganze Land ist ein einziges Museum, wir merken das bloß nicht, wir machen alles so weiter, wie wir es immer gemacht haben, seit vier Jahrzehnten, die ganze Welt hat sich weiterentwickelt, und wir machen immer noch das gleiche und nennen es immer noch Sozialismus, die Städte verfallen, die Landschaft verödet, wir haben die vorsintflutlichsten Autos, wir produzieren in Fabriken, die hundert Jahre alt sind und älter, wir haben die stinkendsten Flüsse, sie sehen aus wie ungenießbares gelbes Bier mit ihren Schaumkronen, und wir reden immer noch dasselbe, die Übereinstimmung von individuellen und gesellschaftlichen Interessen, und alles für das Wohl des Volkes, wir haben noch die gleichen Losungen, mitplanen, mitarbeiten, mitregieren, höhere Leistungen in jedem Stall, die ganze Welt lacht über uns, und wir merken das nicht einmal, und sie kommen von nah und fern, und sie sehen sich das an, sie bezahlen Eintritt ins Sozialismus-Museum, fünfundzwanzig Mark pro Tag, was wir in Verkennung der ungeheuerlichen Tatsachen Mindestumtausch nennen, und sie werden plaziert in den Gaststätten, und sie glotzen uns an wie ein Weltwunder, die Schrippe für fünf Pfennig, die Straßenbahn für zwanzig Pfennig, der Strompreis lächerlich gering, dafür die verpeststeste Luft Europas, die Mieten ein Spottgeld, das Wertgesetz außer Kraft gesetzt, und alles ist grau, selbst die Menschen sind grau und lustlos, sie nehmen, resigniert und lethargisch, das verordnete Glück kaum noch wahr, das reale Museum einer überholten Denkweise, findet ihr nicht auch?

– Bernd Schirmer: Cahlenberg

Malmö

In Schweden benutzt zwar praktisch niemand mehr Bargeld, aber sie haben im Sommer trotzdem alle vernickelten Kronen aus dem Verkehr gezogen und durch winzige neue Münzen ersetzt. Mit Rücksicht auf die Allergiker. Die Schweden lieben diese Begründung. Ich erleichtere mein schwedisches Portemonnaie um 57 wertlos gewordene Kronen. Ich könnte reich sein.

Das Schiff ist fast leer. Der Dezembersturm hat sich rechtzeitig gelegt. See anfangs 3 Meter, aber selbst davon ist nicht mehr zu spüren.

Das Hotel ist aus dem 19. Jahrhundert. In der Mitte des Treppenhauses liegt ein vergitterter Fahrstuhlschacht, nur der Liftboy fehlt. Die alten Zimmer wurden mit Pappwänden parzelliert. Ich schlafe mit Ohrstöpseln, trotzdem wache ich um halb sechs vom Schnarchen meines Zimmernachbarn auf. Um halb sieben fängt er zu telefonieren an, er hat auf Lautsprecher gestellt. Als ich an die Wand klopfe, wundert er sich, warum ich noch schlafen wolle, es gäbe doch gleich Frühstück. Mein Zimmernachbar spielt auch beim Schachturnier mit. Das ganze Hotel ist voller Schachspieler, wir haben einen Preisnachlass bekommen.

In der vorletzten Runde spiele ich gegen Nejib aus Lund. Er ist 72 Jahre und hat neben dem Brett immer ein abgegriffenes französisches Taschenbuch zu liegen. Wir spielen eine lange umkämpfte Partie, die schließlich mit einem Unentschieden endet. Nejib bedankt sich für ihren Inhaltsreichtum, er habe so gut gespielt, wie er könne. Ich bedanke mich auch. Es kommt sehr selten vor, dass beide Spieler glücklich sind.

In der letzten Runde ist Feueralarm. Knapp dreihundert Menschen verlassen den großen fensterlosen Raum durch eine schmale Glastür. Zum Glück brennt es nicht. Ich frage Nejib, was los sei und er sagt, es gäbe in diesem Land viele Regeln und es sei sehr wichtig, dass wir sie einhielten. Nach zehn Minuten kommt die Feuerwehr und wir dürfen zurück ins Haus.

Der kleine Weihnachtsmarkt ist mit Betonsperren gesichert. In den Bäumen hängen Geschenke.

#074

Im Traum das deutliche Gefühl, dass ich hier schon einmal gewesen war. Auf der anderen Seite der Straße stand, etwas erhöht, das frühere Haus der Pioniere, das privatisiert worden war und dann irgendein Gewerbe beheimatete, jedenfalls meine ich mich im Traum zu erinnern, dass ich hier damals etwas eingetauscht hatte, ich glaube, einen Sack Kohle, es war kalt. Ein hell gestrichenes Gebäude, zwei Stockwerke, davor ein vertrockneter Garten. Inzwischen waren die Fenster mit Sperrholzplatten vernagelt und um das ganze Gelände war, etwas lustlos und ohne einen Zutritt wirklich zu verhindern, ein mannshoher, dünner Maschendrahtzaun gezogen worden. Aufgewacht und darüber nachgedacht, ob ich mich im Traum an einen früheren Traum erinnert oder ob ich nur geträumt habe, dass ich schon mal geträumt hatte usw.